00 Prolog
All die Zeit! Mit vollen Händen haben wir sie zum Fenster rausgeworfen. Es gab ja so viel davon und wir wollten unbedingt unsere Welt zum Leben bringen. Doch es waren, letzten Endes, Totgeburten. Heute, fast zwanzig Jahre danach, drängt es uns, Rechenschaft abzugeben, fordern wir uns auf, die Vergangenheit mit Kritik zu durchforsten. Wir haben nur noch wenig Zeit. Wir wollen wissen, woher wir kamen und wohin wir gingen, ja: entscheiden, ob wir überhaupt in der Virtuellen Ralität weiterleben wollen. Lebenszeit, nur ein Bruchteil bleibt uns von ihr: hier wie dort.
Es ist die Geschichte einer Demiurgin mit Namen Kari Inouri. Ein, trotz all der heutigen Drehungen und Wendungen im Identitätskarussel, zutiefst weiblicher Avatar, gleichsam alterslos jung, so wie es Avatare meist zu sein pflegen. Niemand aber vertraue dem Alter!
Die Akteurin ist fast zwanzig Jahre alt. Nicht reales Lebensalter, wie sie es als unbedarfte Leser wohl denken wollen, sondern Alter auf dem Grid. Ihre Geburt fand in den Synapsen der Netzwerke statt, die uns zunehmend entwirklichen. Mit dem Login entleiben wir uns und die Uhr beginnt zu ticken. Plötzlich sind wir 20 Jahre alt – es sei denn, der Avatar wurde wieder mal gewechselt. Schon William Gibson hat von diesem Plug In geschrieben, lange bevor die Demiurgen der Virtuellen Welt geboren wurden.
Warum Demiurgin? Platon hat den Begriff geprägt. Aus dem Handwerker der Antike machte er den Schöpfergott, der die Welt auf vernünftige Weise planmäßig errichtet. Das ist es auch, was Demiurgen heute tun: virtuelle Welten erschaffen, in bestem Glauben, am Stand der Zeit. Sie sind Handwerker und Künstler zugleich, Kunstwesen allemal.
Doch bald schon verkehrt die philosophische Kritik den schöpferischen Gott Platons ins Gegenteil. Aus dem Vollkommenen wird der Mangel, die Demiurgin zu der, die das Fehlbare in die Welt setzt: eine Torin mit Hang zum Unheil. Und so sehen wir die Demiurgin auch als Gescheiterte, die die pompösen Räume des Hypergrid durchwandert, die sie mit ihrer Übergrösse verhöhnen.
Die Geographie will noch kurz beschrieben sein. Wir bewegen uns auf fragwürdigem Gelände. Es ruckelt, es kreischt. Ein falscher Spielzug und die Pixel richten sich zugrunde. Ätherische Wesen sind es, diese virtuellen Welten. Unsere Gegographie versucht sie zu begreifen: ihre physische Erscheinung, ihre Phantastereien und den Raum, in dem Alles geschehen soll. Jeder Demiurg erkennt jedoch sofort die Schwachstellen einer derartigen Unterfangens: zuviel Bemühen um die Objekte und ein eklatanter Mangel an Spielraum! Hat da die Phantasie den vielbeschriebenen Streich gespielt? Die Fragilität fordert letzendlich ihren Tribut: Download und Delete.
Wir schliessen diese Zeilen ab, die Lust auf Erklärung und Detail machen wollen. Mit dem Disclaimer: Niemand erwarte von diesem Text aber mehr, als das Fragment zu sein, das er ist; ein rasch skizziertes Produkt des NanoWriMo2023.
Die Demiurgen rufen Kari zu: “So, und jetzt beginn zu leben, so du nur kannst.” Und sie geht ihren Weg, mindestens dreissig Tage lang projiziert sie zwanzig Jahre Virtual Reality.