02 Boom-Grid
Sie hatte schon viele Namen im Laufe ihres fast zwanzigjährigen Lebens: Margaux, Ojal, Divija, Sylvie und dann: Kari Inouri. Ausgespuckt in einem Welcome Center von Second Life lernte sie schon bald die ersten Schritte in dieser faszinierenden Welt kennen. Es waren die Routinen gelungener Tastenkombinationen, die das Sitzen, das Gehen, ja sogar das Fliegen ermöglichten und so den Forscherdrang ihres Avatars erst ermöglichte. Wenn erst die Finger gehorchten, würde der Geist schon bald folgen. Nach wenigen ungeschickten Versuchen gelang dann die Bewegung auf dem Grid. Eine Welt voller Wunder erschloss sich, die es zu entdecken galt. Kari war unter den Ersten, schon mit von der Partie, als Second Life noch ein Geheimtip war. Ein anderes Leben? Sie hatte auf IRC über dieses unbekannte Territorium gelesen, das die Presse zum Vergleich mit den Entdeckungen des Christoph Kolumbus herausforderte. Im gleichen Zug stellten sie dort auch noch den Reichtum der spanischen Konquistadoren in Aussicht. Kari war nun eine von ihnen!
Auch Der Spiegel war enthusiasmiert – und widmete dem Phänomen Second Life gleich ein Tagebuch, in dem die Welten und Phänomene erforscht und die neuen Konquistadoren “embedded” begleitet wurden. Die Zeit betrieb 2007 sogar Zukunftsforschung und gerierte sich wieder einmal als weise Tante: “Second Life gilt deshalb als Vorbote des künftigen Internets. Es verwirklicht eine lang gehegte Utopie unter Computerexperten, Science-Fiction-Autoren und Zukunftsforschern: Virtuelle und reale Welt verschmelzen.” Na ja, es sollte wohl ein wenig anders kommen!
Aber bleiben wir noch einige Zeit in den Anfangszeiten dieser Neuen Virtuellen Welt. Endlich! In der Eintönigkeit der globalisierten Welt mit seinen Wochenend – Städteflügen, Urlauben am Meer, eintönigen Flughäfen und ewiggleichen Hotels gab es nun einen neuen Kick fürs Bewusstsein, etwas gänzlich Unbekanntes. Dies schien voller Möglichkeiten und Abenteuer zu sein. Optimismus überall: Linden Dollars für die einen, gelungene Demokratie für die Anderen, aufregende Welten für die allerorts Reisenden, Fun Factor für die Meisten. Staunen auch: Was das Internet denn nicht alles konnte! Vielerorts betätigten sich auch auch weissbärtige Verschwörungstheoretiker mit langen Haaren. Auch Althippies, die sich damals schon gerne in ihren Welten abkapselten und ihre Phantasien abfeierten. Natürlich: ein grossartiger Ort, den sehr privaten und verhängnisvollen Hang zum Eskapismus ausleben zu können. Viele wollten bedient werden! Selbst die Star-Trek-Apologeten.
Paradiese entstanden, Elfenreiche, Industriefriedhöfe, aber auch mittelalterliche Welten, die sich in literarisch inspirierter Tyrannei übten: ein wenig Gor hier, ein wenig Gegenerde dort. Den verkappten Frauen (die insgeheim wahrscheinlich Männer waren) schien das Joch zu gefallen, das sie beflissen auf sich nahmen. Alles war eitel Wonne! Wie immer, wenn damals von digitalen Utopien erzählt wurde, glaubten viele fest daran: an funktionierende Kommunikation, unerschöpfliche Kreativität, das Gute im Menschen und dass der Markt alles regeln würde. Eine strahlende Zukunft würde entstehen. Die negativen Phänomene nahm man gerne hin: Antidemokraten, Freiheitsapologeten, Griefer, Copybot – User und Pädophile. Das würde sich schon einrenken, eine Aufgabe für die vielen Lindens, die auf dem Grid im Auftrag von Linden Lab als lustige Avatare verkleidet herumschwirrten! Auch die Pädagogen bastelten an ihren Lernumwelten in Second Life und faselten von Immersion und Neuem Lernen: virtuelle Universitäten entstanden, um Jahre später wieder zu schliessen. Angelockt durch den medialen Hype vom Reichtum, den man in virtuellen Welten gewinnen konnte, beschlossen zudem reale Unternehmen, ihre Firmensitze in den Virtuellen Welten abzubilden. Adidas, Dell, DaimlerChrysler – alle hatten sie ihren virtuellen Firmensitz auf gemieteten Inseln, so als könnten sie etwas versäumen. In Wirklichkeit ging es nur um ein Geschäftsmodell mit seinem Kernstück, dem Linden Dollar, der in einer eigens geschaffenen Bank in harte Währung Dollers getauscht wurde. Doch davon später.
Schon 2004 hatte Kari ihren ersten Account und rieb sich “in-world” (ja, so sagte man das damals voller Stolz) vor Verwunderung die Augen. Auf den Sandboxen summte es von Kreativen, zahlreiche Gutmenschen und Wichtigtuer stellten ihre Freebies in zu gross geratene Markthallen zur Verfügung, der bunte Würfel wurde zum tonangebenden graphischen Element der Welten, die Kari neugierig besuchte. Kleine Läden machten auf. Market Halls entstanden. Sex allerorten, betrieben auf sogenanten pose balls, die beim Berühren ihre geschmacklosen Animationen abspulten: rosa für die Mädchen, blau für die Buben. Sex in allen Spielarten; Bondage vor allem: Knebel, Hundeleinen, Handfesseln, Halsbänder, Anleinpfosten. Gor war begeistert. Grellbunt war diese Welt, mitunter viel zu gross und schrill geraten. Eine Unmenge von Clubs entstanden, in denen sich potentielle D-Janes tummelten. Während man sich selbst beim Tanzen bewunderte, wurde in schlechter Qualität jene Musik gestreamt, die man in der realen Welt in guter Qualität hören konnte. Aber seis drum. Grossspurig optimistisch, also durchwegs prototypisch us-amerikanisch, war das Alles, fand Kari nun schon leicht distanziert. So viel Naivität, sexuelle Ungelenkigkeit und optimistische Emphase war fast schon rührend, so viel Pioniergeist bewundernswert. Der virtuelle Wilde Westen der 2000er eben: einer hauptsächlich für Erwachsene. Die Kinder waren kaum anzutreffen, die übten sich in einem für sie vorgesehenen Kindergarten und dann später voller Begeisterung bei Minecraft.
Begeistert nahm Kari immer wieder die Bahn oder das Pod auf dem Second Life Mainland und blickte in gemessener Fahrt auf die zahlreichen Bauten, die sich neben ihr materialisierten: eine ungelenke und etwas aus den Fugen geratene Welt, die aber Lust auf mehr machte. Doch in gleichem Masse, wie die Builds in die Höhe schossen, grenzten sich die Mehrzahl der Einwohner auch von einander ab und schlossen sich auf ihren Parcels ein. Überall die hässlichen gelben Streifen nun, die den Zugang zum heiligen Eigentum verwehrten: als hätte man nicht alle technischen Möglichkeiten gehabt, sich auch anders vor Griefern zu schützen. Auch der Sichtschutz zum Nachbargrundstück türmte sich mit mehr oder weniger geschmackvollen Texturen vor den Augen der Reisenden auf. Was einst schwereloses Gleiten und Fliegen bedeutet hatte, war nun als Reise fast unmöglich: Sperren, Verbote, schockierend rasches Entfernen des eigenen Avatars vom Grundstück des Anderen mittels elektronischer Wachsysteme. Wie so oft auf dem Gipfel eines Hypes: auch die Entdeckungen schienen letzten Endes erschöpft zu sein, es erschien auf dem Grid einfach nur ein Mehr vom Immergleichen. Zeit für einen Wechsel, auch im eigenen Verhalten. Nicht mehr Fly und See, sondern Stay and Build.
Nach den ersten, wildromantischen Entdeckungsflügen durch die neuen Territorien war Kari deshalb schon bald damit beschäftigt, die neue Sprache der Primitives, des Terraforming und der Skripte zu lernen. Auch sie wollte nun Builderin werden und nicht mehr nur als Besucherin an der Aussenhaut der bunten Blase kratzen! Zum engeren Kreis gehören und mitgestalten wurde zur Devise.
Doch wo die komplexen Baumethoden lernen, wenn nicht nur nach Trial und Error oder mittels Anleitung durch Erfahrene. Richtig: Tutorials im Netz! Noch heute summt Kari das enervierende Synthesizer – Jingle von Torley Lindens Second Life Videotutorien in den Ohren. Torley war in dieser Zeit das Gesicht von Second Life. Mit Begeisterung nahm er gerne auch die Ungeschickten an die Hand nahm und redete ihnen ein, dass SL immer für seine Konsumenten da war. So wie er einmal Newbie gewesen war und es bis zum Second Life “Resident Enlightenement Manager” geschafft hatte, würde es auch den Ankömmlingen gelingen, sich zu integrieren und in der informellen Hierarchie des Grids aufzusteigen. Torley stand gerne in den Welcome Centern und biederte sich an. Er war das Grün-Pink der Wassermelone, das bald zu seinem Markenzeichen wurde. Bunt wie der Grid, geschmacklos wie viele seine Residents, abstrus wie das Meiste. Daneben klotzte Torley in schöner Regelmässigkeit seine kurzen, aufgeregt hysterischen und inhaltlich dürftigen Videos in den gerade erst gegründeneten YouTube Kanal. Zack, Bumm und wieder ein wenig freundlich überdrehte Info: über Primitives, Notecards und Viewerbedienung. Wirklich gelernt hatte Kari bei dem Jungen, der später zur Frau wurde, allerdings wenig, zu fragmentarisch waren seine Botschaften. Aber wahrscheinlich war das auch nicht der Sinn seiner Auftritte, die eher gut gelungener Werbegag, denn technische Instruktion waren. Indes, seine Karriere endete spätestens, als Linden Lab seine Affäre mit der Virtuellen Welt von Sansar abrupt beendete, bei der sich “Torley immer am Ball” engagiert hatte. Ein Opfer der Konzernpolitik? Emotionales Desaster? Allüren einer Drama Queen? Grosse Teile der Community trauerten ihm jedenfalls nach. Es waren glühende Liebesbriefe, die Torley da in seine neuen Welten nachgeschickt wurden: “He was a slim young dude in flowing neon clothes who hauled his keyboard around everywhere, and though a relative newcomer, quickly charmed Second Life's citizenry with his quirky, mad creative charm.”
Noch heute, zwanzig jahre danach quäken seine Videos in Youtube. Wie gesagt, so richtig gelernt hatte Kari von ihm nichts. Sie war eher schockiert ob so viel lärmender Nichtigkeiten. Eher war er für sie ein Epiphönomen, das mehr über den frühen Geist von Second Life aussagte als über sich selbst. Sie vermisste ihn nicht: Torley Linden, die Wassermelone der Community, 2004 – 2020.
Doch bald kamen auch Tutorials auf den Markt, die sich dem Thema des Buildens in einer ernsthafteren und nüchternen Art und Weise widmeteten. Die Zahl dieser Tutorials abseits der Leutseligkeit Torleys wuchs: rasch lernte Kari die Formensprache des Grid und gewann eine gewisse Routine: begann mit ihren vielen Builds, den Sessel und Tischen, Reklamewürfeln, Hinweisschildern und Gebäuden, die sie sorgfältig mit Texturen versah und im Notfall auch skriptete. Sie liess erste Würfel rotieren, fertigte traurig-seltsam an ihren Mästen hängende Flaggen an und bastelte an Phantasieblumen. Sie wagte sich langsam an Architektur, die freilich in SecondLife eigenen Gesetzmässigkeit folgte. Sie lernte die vielen Begrifflichkeiten, um über das zunächst Unsagbare sprechen zu können: Prim, Landscaping, Alt, LSL, Sculptie, Snap to Grid, und vieles anderes mehr. Nicht nur an Videos, sondern vor allem In-world lernte man viel. Denn noch immer half man sich gerne bei der Erschaffung der Welt und war, wie alle Pioniere, auf einander angewiesen.
So viel Neues, so viel Unentdecktes! Und so viele Hickups auf den Servern von Linden Lab, die kaum mit dem Ansturm der Neugierigen zurechtkamen. Im. Jahr 2007, auf dem Höhepunkt des Hypes, hatte sich die Zahl der registrierten User/Resident auf zwei Millionen verdoppelt, 2011 waren es bereits 21 Millionen: viele Avatare waren jedoch Doppel- und Dreifachnutzer. Kaum konnten die Linden-Macher den Ansturm auf ihren Serverfarmen bewältigen. Ach, welch frustrierende Momente waren das, wenn sich die Welt wieder einmal aufhängte, wieder einmal alles Down war und man nicht wusste, was mit dem freien Abend sonst anzufangen war. Eine stotternde Welt war es, die erst mühsam das Laufen lernen musste. Doch das schreckte nicht ab, sondern war eher ein Zeichen für die Besonderheit einer Neuen Welt, die so viele kennenlernen wollten und zu der man gehören musste: koste es was es wolle. Kari war in die Szene Second Life’s mehr verwickelt, als sie tatsächlich wahrhaben wollte.
Alles sah sie nun auch im realen Leben in der Formensprache des Grid: Sitzbänke, Sofas, Hüte, Supermarktregale, Häuser, Parkanlagen. Sie skizzierte vielversprechende Objekte in ein Notizbuch und versuchte sie in-world nachzubauen: nicht immer mit Erfolg. Aber an solchem Scheitern und Korrekturen der Wirklichkeit wuchs ihr Verständnis für die Geomentrie des Baumenüs und darüber, was architektonisch möglich war und was nicht. Langsam begriff sie auch, dass die Virtuelle Welt niemals eine möglichst detailgetreue Nachbildung der Realität sein konnte, sondern ihren eigenen Gesetzmässigkeiten folgte. Diese auszuloten war sie angetreten. Und bis heute machte sie wohl nichts Anderes.