03 Intermezzo: Schön Willkommen
Willkommen also bei diesem Intermezzo, das als virtuelles Welcome Center gelten kann. Den Leser eifertig an die Hand genommen, um zu zeigen, wie ein Buch auch funktionieren kann. Zu lesen beginnen und dann umblättern, wenn die Seite zu Ende geht. Dazwischen atmen und den Blätterfinger nass machen. Sich das Getränk zurecht rücken oder vielleicht auch eine Zigarette. Ist es denn so schwer, mit dem Lesen zu beginnen? Schreiben ist noch viel schwerer. Beides eigentlich sinnlos, in Zeiten der Bilderschwemme.
“Immer diese Welcome Centers, auf denen man automatisch nach dem Einloggen in einen Grid landet”, dachte sie genervt. “Kann das nicht mal anders gehen?” Nur ungern wird Kari Inouri auf ihren gegenwärtigen Reisen im Hypergrid daran erinnert, wie unsicher sie einst war, damals, im Jahr 2005 in Second Life. Noch nie zuvor hatte sie einen Avatar besessen, noch nie zuvor war sie ins Kleid dieser seltsamen Echse geschlüpft, die sie sich auf der dazugehörigen Website hatte aussuchen dürfen. Hässliche Echsen, allesamt!
All diese Fragen: Welcher Avatar wollte man werden? Wen sollte man aus dem bereitstehenden Angebot aussuchen? Und wie wollte man eigentlich aussehen? Mann, Frau, Furry? Naives Heimchen, Fashionista oder Urban Resident? Femme Fatale vielleicht oder penisverunstalteter Muskelprotz? Das waren schwierige Entscheidungen, die zu treffen waren. Völlig sicher war sich Kari damals nicht, ob man später in-game wieder alles rückgängig machen könne. “Was liegt, das pickt”, hatte man bei ihr zuhause bedeutungsschwer angesichts schwieriger Situationen gemurmelt. Da zögerte man gerne, bis die Chance an einem vorbeigezogen war. Unsicherheit hatte sich vor ihrem Computer breitgemacht, eine Aufregung, derer sie sich bis heute nicht gänzlich hatte entledigen können. Noch sass man als zögernde Person hinter seinem Keyboard und schon bald würde man in einer fremden Spielewelt den neuen C.h.a.r.a.k.t.e.r. annehmen und zu seinem Namen und Aussehen stehen müssen. Was heute für Gamer als Routine gilt, war damals ein prekärer Entscheidungsfindungsprozess. “Nur nicht mit dem frisch gewählten Avatar scheitern!”, war Karis oberste Devise. Zitternd lagen die Hände am Keyboard.
Die ersten Momente in der Virtuellen Welt. Mutig auf den Button der SL-Anmeldeseite gedrückt und nach wenigen Sekunden aufmerksamer Spannung war man im Welcome Center angelangt. Damit hatten sich die Architekten von Linden Lab grosse Mühe gemacht, denn allzu schnell loggten sich die Zaghaften wieder aus, wenn ihre Spielerwartung enttäuscht wurde, auf Nimmer-Wiedersehen. Kundenbindung war aufzubauen, die Konsumenten sollte man easy hineinschlittern lassen in das Inferno des Konsumierens und erst dann auspressen wie eine Zitrone. Kari konnte sich gar nicht mehr so richtig erinnern, welche Erwartungen sie damals gehabt hatte. Möglicherweise es nur die Eine gewesen: Nicht an sich scheitern zu dürfen.
Enter also trotz all der Bedenken und die Novizin erschien vor ihren Augen am Bildschirm im neuen Gewand einer dichtgepackten, rötlich schimmernden Wolke: als erster Avatar ihres Lebens, mit ungewohntem Namen und blödem Gesicht. Der Avatar materialisierte und sah schlimmer aus, als man befürchtet hatte. Er hatte nichts von dem Traumgebilde, das man sich erwartet hatte. Aber allen ästhetischen Zweifeln zum Trotz: es gab diese Neue Welt tatsächlich, mit ihrem Wegesystem, den Verweilinseln, den blassen Texturen, Bäumen, Sträuchern und sprachlich schlampigen Erklärungen auf überdimensionalen Schildern. Zudem gab es da auch noch andere Avatare, die, wie man gerade selbst, sich zunächst als Wolken, dann als Avatare materialisierten und blöde vom Himmel fielen. Schnell weg aus dem Bereich, wo alle spawnten und einem mir nichts dir nichts auf den Kopf sprangen, vom Nirgendwo kommend. Denn die neu geborene Kari war im Landebereich stehen geblieben, voller Erstaunen über die Welt, die sich langsam auf ihrem Bildschirm aufbaute. Sie war voller Angst, nicht zu wissen, was in den kommenden Momenten geschehen würde und wie sie sich dabei verhalten sollte. Da ging sie am Besten den Leuten aus dem Weg, hin zu einer stillen Ecke.
Oh Gott, war man als Neue ungeschickt und unbedarft. Ein Newbie eben, wie sie rasch den Namen dafür lernte; eine unbedarfte, naive Tussi, die nichts mit sich und den anderen anzufangen wusste. Gottseidank wankten auch die anderen Ankömmlinge im virtuellen Raum herum, ungesteuert, übersteuert, falsch gesteuert. Shift irgendwas, control anderswo, vorwärts, rückwärts – das neue Alphabet der Tastatur, mit der man diese Welt bedienen konnte, war unbekannt und sollte gelernt werden. Man hätte es auch anderswo, in anderen Spielen, nicht beherrscht, so dumm war man noch, spielerisch eine Katastrophe. Fest stand: Zu den IT – Nerds und Spielefreaks hatte man nie gehört. Auch deshalb stand man hier so dumm herum. Eine Veränderung der eigenen Haltung stand an, selbst musste man ein Freak werden, das war in den kommenden Monaten unbedingt zu leisten. Denn merkwürdig sah man schon aus, in dieser neuen Erscheinung, die Pinocchio mehr ähnelte als realen Menschen. Pumuckls, die herumstolperten, sich in Ecken festsetzten und andere Mitspieler über den Haufen rannten. Sooo schlimm! Soooo peinlich!
Jetzt war man mit Ach und Krach auf der nächsten Lerninsel angekommen, wo man Leute stehen sah, die sich weniger hektisch gaben. Viele von ihnen hiessen Linden, gehörten wohl zu einer Familie mit guten Absichten und schlechter Moral. Erfahrene Helfer, denen man Fragen stellen konnte. Agenten der Macht. Linden Lab Gesandte. Vorwärts, rückwärts, stehen geblieben, zittern. Aber nun, da man vor jemand stand, und angesprochen wurde mit “Hi! Can I help you?” – wie konnte man da selbst kommunizieren? Wie antwortete man jenen, die lässig auf den flachen Scheiben standen, die man als Neue Welt identifizierte? Eine Peinlichkeit war das wohl, besonders als der hilfsbereite Geist fortfuhr mit seiner Rede, die damals noch in einer kleinen Blase oberhalb seines Kopfes erschien. “Type somethig into the chat field at the bottom of your screen.” Stimmt, die Bedienerführung war ja auch noch da. Auf die hatte die neugeborene Kari völlig vergessen angesichts der Sonderbarkeiten, die sich hier auf diesem Bildschirm abspielten. Und man tippte, klopfte enter und war ein Avatar aus Fleisch und Blut. Tippfehler egal, ungelenkes English egal, Redundanz egal. Ein nunmehr sprechendes Wesen, aufgehoben in der Obhut eines Anderen. Eines Linden, den man sein körperliches Wohl anvertrauen konnte, und der einem die eigene Naivität und Dummheit mit Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Verführung vergalt. Man war geboren und wurde betreut: ach, wie schön! Noch war alles nett, noch war alles dazu da, einem das Leben erträglich zu machen, alles war ein Lernanlass zur Avatarwerdung. Ein Geburtsprozess in einer Welt, die, wie es schien, aus der eigenen Körperlichkeit, der umgebenden Architektur und einer wundersamen Gemeinschaft bestand, die Linden mit Nachnamen hiess.
Und schon bald, wenige Stunden nach der Landung konnte man sich im Welcome Center bewegen, gehen, laufen, fliegen, stehen bleiben. Und sprechen. Andere ansprechen, mit anderen sprechen, antworten! Diesen seltsamen Standardvatar etwa, der in in einer der Ecken eines halboffenen Gebäudes in einer Ecke vor sich hinzuckte und dabei immer in die Ecke hineinrannte, vor der er stand – diesen konnte man einfach ansprechen. Aber keine Antwort, der war einfach abgeschmiert ins Nirvana. Man bleibe vor solchem Schicksal verschont!
Doch lassen wir die alten Unsicherheiten unserer Heldin hinter uns und sprechen von einem Welcome Center der Gegenwart. Liess sie die alten Ängste des Nichtgenügens von damals gar nicht erst aufkommen, fand Kari die inzwischen Erprobte, waren diese Welcome Centers eigentlich ganz erträglich, athmosphärisch freundlich und technisch hilfreich. Das konnte man von vielen Plattformen, die heutzutage im Hypergrid für ein Willkommen sorgen sollten, wohl nicht sagen. Waren die Neuankömmlinge von heute geschickter, erfahrener, abgebrühter? Waren das Spieler, die sich ohnehin schon auf anderen Grids die Hörner abgestossen hatten und auf deren Wohlergehen man als Gridbetreiber einfach pfeifen konnte?
Es war natürlich so: Kari Inouri von Heute nutzte schon längst das verbrannte Second Life nicht mehr, sondern kam ganz dezentral und mit Open Software daher. So richtig begonnen hatte alles mit den Eskapaden der alten weissen Männer, die ihre Virtuellen Welten und Sozialen Medien mit hohen Mauern eingezäunt hatten und nichts zuliessen, worüber sie nicht die absolute Kontrolle hatten. Viele User “verzogen” sich deshalb in die dezentralen Dienste und zur freien Software, nannten es aber hochtrabend Flucht, so als hätten sie keine Entscheidung zu fällen, wo sie ihre Zeit verbringen wollten. Hier im Hypergrid und Fediverse war das Leben gemütlicher und vor allem billiger. Die Mauern, die man bei anderen verachtete, baute man sich als KonsumentIn nun selber, die Gesellschaft, die man bevorzugte, suchte man sich selber aus und litt an ihr trotzdem wie ein Tier.
Der Prozess der Dezentralisierung hatte inwischen auch in den virtuellen Welten stattgefunden, Second Life war verbrannt, inzwischen zu einem Konsumtempel verkommen, dem man nicht nachtrauerte, für den man sich letzten Endes viel zu gut fand. Also statt Second Life doch irgend ein gehosteter Open Simulator! Kari hatte schon vor Jahren den Hypergrid besucht, dabei das Engagement der Betreiber bewundert, sich aber bitterlich über die vorgefundene Designwüste beklagt. Bevor sie überhaupt eine fundierte Meinung zu der neuen Entwicklung beziehen hatte können, kam das Leben dazwischen, bedauerlicherweise. Sie zog sich zurück aus ihrer virtuellen Welt.
Jetzt aber war Kiri wieder präsent und besuchte den Hypergrid mit Ausdauer und Sachverstand. Und genau diese Erkundungen verschafften ihr die Gewissheit, dass mit den Willkommensräumen grobe Veränderungen vorgegangen waren. Diese waren nicht zum Besten.
Ein Beispiel: Das Welcome Center von The Swiss Grid, einem kleiner Anbieter, der vermutlich seine Server in der Schweiz betreibt. Kari fragte da nach, hat aber bis heute keine Antwort bekommen. Diesen Grid wollte sich Kari nun einmal vornehmen. Sie sollte Recht behalten: alles war anders als damals in den Unschuldstagen der Avatare.
Der Mechanismus war unverändert. Zuerst den Account einrichten auf einer doch sehr nüchternen gehaltenen Website; dann der Start des Viewers. Drin im Leben war der neue Avatar, den Kari der Einfachheit halber mit ihrem alten Namen versehen hatte. Jeder Grid sein Avatarname: man konnte sich nun auch namentlich verdoppeln, verdreifachen oder verzehnfachen, wenn man das nur wollte. Drin war die Frau: ohne Probleme. Aber im Vergleich zu den Kindertagen von Second Life fand sie kaum Pädagogisches, das einen Newbie hätte an der Hand nehmen können. Das Auffälligste waren die Flaggen und Wappen, damit die Angekommenen sogleich wussten, wo man in Europa gelandet war: Flaggen der Schweiz, ihrer Kantone und auch der Ukraine, aus Solidarität, gewiss. Dann vier Wege, vom Landepunkt wegführend, jeweils im Winkel von 90 Grad. Die Themen verwirrten Kari: Mit Wilder Westen (Salt Lake City) und einem mittelalterlichen Dorf hätte sie als Neuling kaum viel anfangen können. Auch als Old Hand fand sie das nicht sonderlich hilfreich. Im nächsten Quadranten eine Open Air Diskothek, wo man erfur, dass der Grid gerade sein zweijähriges Bestehen gefeiert hatte oder feiern würde. Und schliesslich Altgewohntes: ein Freebie Shop mit eigenartigem Namen, in dem bedürftige Avatare sich kostenfrei ausstatten konnten. Irgendwo am Gelände auch ein Hypergrid Teleporter, wo man sich bei Nichtgefallen gleich wieder wegbeamen konnte vom mässig interessanten Grid. Schliesslich ein Cafe und viele Schilder, auf denen stand, dass bald mehr Info eingerichtet werden würde. Worüber, fragte Kari sich, und warum nach zwei Jahren Bestehen sich im Provisorium einrichten? Ach ja, da waren noch mehrere Richtungsschilder, in Schweizer Wandergelb gehalten, die zu thematisch gehaltenen Regionen führten. Ein Welcome Center also? Richtig, ein Schild mit Hilfeangeboten: man stehe für Fragen zur Verfügung. Und weil Neuankömmlinge offenbar lästig sind, wird auch gewarnt, dass man nicht ohne Grund stören solle. Antworten würde man darüber hinaus ohnehin nur bekommen können, wenn die Helfer Online seien. Das fand Kari für ein Welcome Center frech. Kundenbindung sofort im Keim erstickt.
Was aber am Schwersten wog, aber kaum überraschend war: kein Mensch war im Raum, zur besten Zeit am Abend. Einsamkeit tropfte aus jeder Ecke der Region, Trostlosigkeit allerorten.
Etwas ratlos ist Kari ob eines derartigen Welcome Centers: hier möchte man als Neuling nicht landen, auf keinen Fall. Weder Fisch noch Fleisch, nur wenig durchdachte Pseudokost. Weder wurde hier Hilfe angeboten, noch wurde man an Hilfeposten vorbeigeschleust. Von den notwendigen Initiationsriten, die , die Virtualität erst begründen, keine Spur. Wenn keiner da ist, warum soll man dann auch bleiben? Wenn man nix lernen konnte, warum sich mit den Dingen um einen herum beschäftigen? Wenn nichts angeboten wird, warum danach suchen? Und selbst die Old Hands konnten all das nur mässig interessant finden: Mittelalter, na und? Wilder Westen: wozu? Tanzklubs: wie abgeschmackt! Was noch blieb, war der Freebie Shop. Und da wird Kari auch fündig. Denn der ist im Vergleich zu anderen am Hypergrid sehr fein. Deshalb wurden die feinen Dingen abgestaubt bevor man sich wieder verzog.
Beim Rückweg schaut Kari nochmals beim Landepunkt vorbei. Sie schnappt sich die Kope eines gutgebauten Humanoiden Roboters und probiert die Schweizer Wanderschilder. Sie möchte die einzelnen Regionen und ihre Builder kennenlernen. Vielleich auch Kunst sehen oder sich an klug konstruierten Regionen erbauen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Kari notiert, denn sie führt seit Jahren ein Tagebuch: “Tanstein, die Weisse Burg”, offenbar Nachbau einer real existierenden Ruine (Build von Nick Raven, Profil: “Der frühe Vogel mag keinen Wurm”). Viel zu gross geraten, aber die Sitzbänke sind interessant. Ein “Magic Jungle” zur Erholung, vom selben Builder, das übliche Naturreservat mit interessanten Bäumen. “Tesonikis”, eine griechische Naturlandschaft, wohl ein Versuch, sich Meteora in Erinnerung zu rufen, wieder von Nick Raven. Dann “Anis Heimat”. Der Leser wird sicher erraten, von wem.
Und spätestens da stockt Kari: alles von diesem Avatar, der Eigentümer von Swissgrid sogar? Keine Welt, sondern des Builders Einsamkeit? Kari hat nun schnell das weitere Interesse verloren. Sie wollte entdecken, (noch immer!), nicht den Obsessionen eines Einzelnen folgen.
Jetzt denkt Kari schon mit Wehmut an ihre Anfänge zurück, damals, als die Avatare das Gehen lernten. So schlecht war es gar nicht, damals in Second Life.