04 Identitäten
Eines Tages passierte es: Kari (die ihren damaligen Namen schon lange vergessen hat) verliebte sich in einen deutschen Avatar mit wippenden Pferdeschwanz und dem naiv anmutenden Outfit eines frischen Mädchenavatars. Man traf sich, tauschte Erfahrungen aus, begeisterte sich an den Sonnenuntergängen, wartete sehnsüchtig auf das “Online” des Anderen. Denn wer nicht online war, der lebte nicht, dem konnte man die überaus wichtigen Nebensächlichkeiten nicht mitteilen, der war weder zu beleidigen, noch zu lieben. Der fehlte einfach. Überhaupt liebte man nur In-World, im realen Leben vergass man hingegen schnell, was einen in der anderen Welt emotional beschäftigte. Pferdeschwanz musste einfach online sein: was sie in grosser Unregelmässigkeit zögernd tat. Das war für den Dauergast Kari zwar ein wenig schmerzhaft, aber letzten Endes wusste man sich auch anders zu beschäftigen.
Neben dieser Schwärmerei war man sich auch handwerklich sehr zugetan. Mit Eifer stimmten die beiden Mädchen die Menüs ihrer Viewer aufeinander ab, waren sie sich doch nie völlig sicher, ob man dasselbe bewunderte. Der Pferdeschwanz nutzte schon Firestorm, eine Art Gegenwelt zum betriebseigenen Viewer von Second Life. Auch das gab es! Andere Viewer ! Guerilla-Viewer sogar, mit denen man Kopien von jenen Sachen nahm, die nicht kopierfähig waren. Copybot Viewer waren illegal, wie man seitens Linden Lab den Residents allerorten versicherte. Selbst sah Kari noch konservativ in diese Welt und verwendete den SL eigenen Client. Sollte sie denn nicht lieber auch zu Firestorm wechseln? Das schien eindeutig cooler zu sein. Von Copy Bot liess sie zu diesem Zeitpunkt aus Unerfahrenheit noch die Finger.
Die Beziehung mit Pferdeschwanz war kompliziert. Verwirrt versuchte Kari das Geschlecht ihres Gegenübers auseinander zu dröseln. War nun de Andere im realen Leben männlich, weiblich oder war das egal? Spielte das eine Rolle in dieser irrealen Welt, die jedoch in diesem Moment nun sehr real war? Das Wirrwarr um Geschlechtsidentitäten von heute kannte man noch nicht, denn das hätte die Erotik am Grid völlig zum Erliegen gebracht. Dafür gab es insgeheim die ohnehin schwierige Vermutung, vielleicht selbst lesbisch oder schwul zu sein, steckte man doch im Körper des anderen Geschlechts. Durch Zufall natürlich oder aber aus Neugier: niemals aus Begehren! Das allein schuf schon Kopfzerbrechen. Also rang man sich mehr oder weniger zu jenem Geschlecht durch, das man als Avatar darstellte, auch wenn dies nicht der Realität entsprach. Wenn man sich aber selbst entschieden hatte, wie man im virtuellen Leben ticken wollte: passte das dann zu den Vorlieben des/der Anderen? Wie zum Kern der Identität des/der Anderen vordringen? Manche gaben über ihr eigenes reales Leben bereitwillig Auskunft. Manchen war jede Form von Real Life Touch verpönt. Aber wie sollte man sicherstellen, dass das Real Life Profil des anderen nicht auch ein Spiel war?
Ein gutes Beispiel dafür, dass Genderbending eine durchaus übliche Praxis auf dem Grid war, lieferte wieder der unsägliche Torley Linden. Denn jener Avatar schien offenbar nur eines an Kontinuität aufzuweisen: das der Wassermelone entlehnte Farbenspiel von Pink und Grün, das sich auf Torso, Haar und Kleidung widerspiegelte. Ansonsten war alles fliessend: sein Geschlecht (männlich, weiblich), sein Name (Torley Torgeson Sr., Torley Torgeson Jr., Torley Holmstead, Torley Linden), die eingenommenen Rollen. (Newbie, Linden Helper, Enlightenement Manager, Abtrünniger, Musiker). Wäre Kari einer dieser Second Life Celebrities gewesen, hätte man sicherlich Vergleichbares über sie lesen können. Nur Männer und Hysteriker, die hätte sie niemals geben wollen.
Die Leser werden nun schon besser verstehen können: Das Glück zwischen Pferdeschwanz und Kari war in Bezug auf Identitätsfragen überaus kompliziert und währte daher nur wenige Wochen. Es war zu verwirrend für das fröhliche Dasein am Grid, in dem man alles glauben sollte, was da von den Lindens daher geplappert wurde. Das haarwippende Gegenüber pochte mit einem Male auf die Freiheit, die sie niemals missen könne. Warum das plötzlich so war, wusste man nicht. Kari, deren Spielerin in den frühen Post Achtundsechzigern sozialisiert worden war, sah das theoretisch ein, fragte aber nicht genauer nach, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte doch stets den Vorlieben der Angebeteten entsprechen wollen! Willfährig war sie, sensibel, aufmerksam. Und nun diese Verletzung und der Anwurf, man würde klammern! Aber sei es wie es sei. Avatars gab es viele und Liebesaffairen wohl auch. Ausserdem schien Online – Liebe beschwerlich zu sein und vor allem: zeitraubend! Verletzt zu werden, war aber auch als Avatar nicht leicht zu ertragen. Lieber den Emotionen und Verwirrungen ein Ende bereiten und weiter die verlockenden Ebenen von Second Life durchstreifen. Neue Abenteuer lockten. Zudem: Beziehungen endeten abrupt auf dem Grid und die technischen Schritte für das künftige Ignorieren des Anderen waren schnell gesetzt: einfach ignorieren, einfach aus der Freundesliste werfen. Frau sah sich dann hoffentlich nie wieder. Kari war wieder frei, Pferdeschwanz ebenso. Gottseidank war man keine Partnerschaft eingegangen!
Dennoch verwies diese erste Liebe auf das mittlerweile nicht nur bei den Newcomern grassierende Problem einer prekären Balance zwischen Virtueller Realität (VR) und Realem Leben (RL). Second Life (SL) war so gesehen Teufelswerk und stürzte viele der ohnehin identitätslabilen Residents in ein tiefes Dilemma: Wer war man eigentlich wirklich? Mehr noch: Wer wollte oder sollte man eigentlich sein? Wen suchte man? Und suchte man überhaupt jemanden? Noch gerade in den nächsten Tanzpalast oder Poseball hineingestolpert, poppten die Komplikationen mit der Virtuellen Realität auf: männlicher pose ball, weiblicher pose ball? Gemischt? Gedoppelt? Nationalität, Alter? Wie hielt man es mit den Furries? Den Tinies? Den Kinderavatars? War man bi, schwul oder hetero? Man war sich seiner immer weniger sicher.
Am deutlichsten zum Ausdruck kam das beim Ausfüllen des eigenen Profils, was man schon bald nach den ersten geh- und Flugversuchen erledigte. Denn es war die mehr oder weniger umfangreiche “Visitenkarte”, die das unbekannte Gegenüber beim Klicken auf den Avatar zu Gesicht bekam. Was war über einen zu lesen? Das bereitete unentwegt Kopfzerbrechen, war jedoch eine Conditio sine qua non für das Zweite Leben. Man legte sich also schriftlich fest und wurde einschätzbar für die Anderen. In regelmässigen Abständen datete Kari deshalb ihr Profil ab, feilte an diesem, löschte jenes. Insbesondere die Opposition der Spalten Erstes Leben und Zweites Leben war tricky. Hier teilte man doch im Grunde die Differenz mit, die frau hinter dem Bildschirm jedes Mal auszuhalten hatte, wenn sie sich in Second Life einloggte. Wenn Kari diese Profile bei Anderen las, erfuhr sie oft die Grenzen, die sich Avatars selbst gesetzt hatten. Manche waren abweisend: “Frag mich nie nach meinem Ersten Leben” schrieben die einen, “Wenn wir einander vertrauen, erzähl ich dir was daraus” die anderen. Manche wiederum gaben die Zeitzone preis, in der sie schrieben, manche einen altklugen Spruch, manche ein Foto von sich (bei dem man nicht genau wusste, ob es nicht auch gefaked war). Kari bemerkte, wie sie sich in derartige Profile vertiefte und dann auch noch nach der Gruppenzugehörigkeit durchforstete, die die Avatars mit sich herumtrugen. Das grenzte oft schon an selbstverschuldetes Stalking, das Avatars mit ihren Profilen hervorriefen. Es war mithin wie eine Sucht: mehr Informationen aus diesen Profilen heraus zu kitzeln als ihre Träger bereit waren, explizit mitzuteilen. Kari erfuhr, wie es war zu stalken: diese Gier nach mehr, nach immer privaterem! Besonders perfid war in diesem Zusammenhang der Reiter “Notizen”, in dem man seine privaten Anmerkungen über den Charakter des betreffenden Avatars hinterlassen konnte. Beim nächsten Treffen konnte man sich dann rasch in Erinnerung rufen, was man aus der Begegnung mit diesem oder jenem gelernt hatte. Die eigenen Notizen erwiesen sich dabei oft als Peinlichkeiten, die man sogar als Autorin nicht mehr lesen wollte.
Sich in dieser wagen Welt der Identitäten zu bewegen, war unter Umständen sehr risikoreich. Rasch wurde man wegen seines eher detaillierten Profils in eine bestimmte Ecke gedrängt, oder wegen eines leeren Profils nicht mehr beachtet. Das war insbesondere für Newbies eine Falle, aus der sie sich nur schwer wieder heraus bewegen konnten. Einmal in einer bestimmten Community als was auch immer abgestempelt zu werden, und für immer darunter gelitten. Das Profil radikal zu ändern half da nicht sehr. Da blieb nur mehr ein Weg: sich von seinem alten Leben zu verabschieden und den Avatar aus dem Verkehr zu ziehen. Die vielen Doppelgänger auf dem Grid erklärten sich eben auch daraus: das die alte Identität nicht “geklappt” hatte und eine neue angenommen werden musste: aus welchem Grund auch immer. Den alten Avatar liess man dann gerne “auskühlen”, versah ihn nach geraumer Zeit mit einer anderen Identität und hoffte, dass man auf dem Grid nicht mehr erkannt wurde als das, was man einmal hatte sein wollen. Besser also achtsam mit seinem Profil und Aussehen umgehen und sich in regelmässigen Abständen davon überzeugen, ob auch alles mit dem eigenen Avatar stimmte.
Irgendwann zog Kari einen Schlussstrich unter all diese Überlegungen und Zweifel. Frau musste schliesslich spielfähig bleiben. Als Margaux Lapointe (denn so nannte sie sich nach dem misslungenen Tete a Tete mit dem Pferdeschwanz) posierte sie nun als starke und lesbische Frau, die wohl kaum mehr enttäuscht oder verletzt werden konnte. Dominanz war gefragt, Selbstbewusstsein! Derart ausgerüstet trieb sich Margaux in den vielen Freebie Läden und auf den weiten Sandboxen herum, bastelte an ihren Freundschaften und Bündnissen. Sie fühlte sich grossartig. Man. begann sie zu achten und natürlich auch zu fürchten. Denn nun war sie, wonach sie gesucht hatte: eine starke Frau, selbstsicher, ein wenig bösartig und vor allem affektgetrieben. Jemand, den man wegen seines Temperaments fürchtete. Zumindest die Amis, denen so viel Authentizität einfach zu viel wurde. Geblockt wurde Margaux deshalb oft. Aber was machte das schon aus! Der Menschen waren damals viele auf dem Grid. Auf alle Fälle vermied man Freundschaften mit diesen überfreundlichen und pseudohöflichen amerikanischen Linienmenschen, die einen voller Selbstverständlichkeit dümmlich fragten: “How are you today?” Als hätte man sich schon gestern gekannt!
Dass Margaux wegen ihres neuen Profils immer wieder von devoten Dummchen angesprochen wurde, nahm sie dabei bewusst in Kauf. Manche konnte man gut für die eigenen Zwecke instrumentalisieren. Richtig einlassen wollte sie sich aber auf das Spielchen Dominant-Unterwürfig nicht: auch dieses Identitätscluster schien ihr zu risikoreich. Cybersex auf Pose ball – Konstruktionen war ausserdem ohnehin nicht nicht das Ihre. Margaux war für höhere Weihen bestimmt. Während andere bereits begannen, Second Life mit der Gier des Raubtier-Kapitalismus zu filetieren, oder nach einer Liebesbeziehung zu suchen, wollte sie konstruktiv sein und am Aufbau von Second Life mitarbeiten. Sie kaufte Land, um handwerklich tätig sein zu können und sich mit ihren Builds die Zeit zu vertreiben. Auch die Zeit der Sandboxen war nun für sie vorbei, denn irgendwo wollte man seine Produkte doch permanent zeigen! So mehrten sich die Anzeichen es, das ein neuer Charakter geboren war: jener der glorreichen Margaux Lapointe. Kari war endlich erwachsen geworden.