05 Intermezzo: Fly, eagle, fly
Über weite Strecken war das die liebste Beschäftigung der neugeborenen Margaux: über Land fliegen, nach freigewordenem Land suchen, das Land anderer besuchen. Land, Land, Land! Das war nun das Synonym für den aufgespannten Grid. Es breitete sich unter einem aus, es kostete ein kleines Vermögen, es war das gutmütige Monster, das Linden Lab geschaffen hatte, um Geld zu generieren.
Sich in der Freizeit einzuloggen, zu warten bis der Avatar gerezzed war und dann aufzusteigen in den Himmel der monströsen virtuellen Welt. Unter sich Landschaften, bis an den Horizont, der viel zu lange spawnte. Plötzlich verwandelte sich der Spieler vom gebeutelten Werktätigen und geplagten Beziehungsgeschädigten in einen strahlenden Avatar, der realer zu sein schien, als die gebeutelte Physis vor dem Bildschirm. Der Avatar, nicht der Mensch war nun real. Immer wieder dieses Phänomen: sich plötzlich in sein Alter Ego zu verwandeln, das einen anderen Raum bereiste, der wichtiger war, als all die Nichtigkeiten der realen Welt. Wo spannende Herausforderungen warteten, wo alles so schmerzhaft aber auch befreiend anders war. Alle Physis fiel vom Spieler ab und machte sich erst nach stunden- bis nächtelangem Verweilen in der neuen Virtualität bemerkbar. Schmerzen in den Schultern, flirrende Augen, Rückenprobleme. Man sollte sich ausruhen, vielleicht ein wenig Bewegung machen, aber dann war da noch dies und dann noch das, was in-world erledigt werden sollte. Eine neue Idee auch und eine überraschende Begegnung, all das liess die Entscheidung, sich auszustöpseln, immer wieder hinfällig werden. Die Stunden verflogen, draussen begann es zu dämmern. Das Erste Leben investierte der Spieler in das Zweite Leben, mit ein wenig schlechtem Gewissen zwar, aber ohne Zögern! Das Verlassen des Grid war letztendlich begleitet von kompletter Erschöpfung, die den den Avatar gezwungen hatte, sich von all den wunderbaren Dingen In-World zu verabschieden. Man hatte das Gefühl unendlich viel geschafft zu haben, und doch blieb man hungrig auf immer mehr. Diese Erfahrung hatten viele gemacht und sogar ein Begriff wurde dafür geschaffen: „Avaddiction“ hiess das in der alten Sprache des Grid: Spieler, die so süchtig waren, dass sie mehrere Virtuelle Welten gleichzeitig offen hielten und jeden ansprachen, der ihnen dort begegnete.
Dem Spieler fiel das Buch von William Gibson in die Hände, und die Lektüre traf ihn wie ein Blitz. Hier wurde genau das Lebensgefühl beschrieben, das Margaux erst zu Margaux machen konnte. Der Cyberspace! Die Matrix! Der Cyberpunk! Begriffe, die Gibson schon 1984 beschrieben hatte und die jetzt, mehr als zwanzig Jahre danach auf Second Life nachempfunden werden konnten. Tief beeindruckt war der Spieler von der Szene, in der sich ein vom Leben gebeutelter Antiheld namens Case nach partieller körperlicher Genesung wieder an die Konsole seines Gerätes setzte konnte, sein Nervensystem mittels Drahtverbindung in die Konsole einstöpselte und den EIN-Schalter drückte. Da flog die Matrix auf ihn zu, da tauchte er ein in den Grid, da verlor er das Bewusstsein und gewann ein Anderes. Er wanderte im Raum, mit der Persönlichkeit einer anderen, verspürte ihren Schmerz, ihre Aufregung, stöpselte sich dann wieder aus. Für einige Zeit, aber nur, um zurückzukehren. Die Rückkehr in die düstere Alltagsrealität war schmerzhaft, aber unvermeidlich. Doch konnte Case in der Matrix kriminelle Aufträge erledigen, die im Real Life von sinistren Figuren benötigt wurden. Und Moral blieb aussen vor. Der Cyberpunk war geboren und auch die brave Kari wurde nun Teil davon. Blood , sweat and tears! Viel Schmutz und Grunge. Trostlosigkeit. Schräge charakterliche Verwerfungen. Implantate. Und das surrende Geräusch, das das Kühlsystem des Computers erzeugte. Ein elektrisches Flimmern auch, das sich im Gehörgang einnistete und sich beim erschöpften Einschlafen nicht vertreiben liess. Das Knistern der Matrix. Auch Margaux war ihre Gefangene.
Konnte aus Kari auch ein Cowboy werden? Auch sie sah nach dem Einschalten die Matrix auf sie zufliegen, auch sie spürte die Verführung des Virtuellen, und auch die Hände ihres Spielers lagen fast zärtlich auf dem Deck. Sollte sie einen Schritt weiter machen und aus ihrer Margaux den bezahlten Auftragscowboy erschaffen, der sich in die Matrix von Second Life hackte, das Eis brach, um Dinge zu machen, für die sie die Lindens bis ans Ende von Second Life jagen würden? Diese scheinheiligen Aufsteiger, die einst (in der Beta Fassung des Spiels) das Land selbst mit ihren Granaten zu deformieren pflegten. Und jetzt plötzlich, Göttern gleich, hatten sie IHR Land zum heiligen Gral des Profits erhoben.
Mit diesen düster – beschwingten Gedanken flog Kari nach dem Loggen über den Grid, sich ganz als Cyborg und Badass fühlend, und begann immer öfter, sich daneben zu benehmen. Denn der Mainstream amerikanischer Befindlichkeit begann sich nun auch auf Second Life auszubreiten und rief erbitterte Gegnerschaft in ihr hervor. Schon wieder hatte das Biedermeier zugeschlagen, schon wieder drohte das Kapital Übermacht über Alles zu gewinnen. Irgendwie musste Frau doch Stellung beziehen! Der Grid sollte nicht den Machern und Folgsamen gehören, sondern ihnen, den Konsolencowboys allerorten. Wenn sie also auf ihren Flügen in die Vorgärten der schönen Villen blickte, die sich da unter ihr entwickelten, machte sie in dunklen Stunden halt, prüfte, ob man nicht doch vergessen hatte den Objekteintritt oder das Stossen auszuschalten. Und wenn die Naivität des Grundstückseigentümers zu gross war, um sich abzusichern, stiess sie zu wie ein Raubvogel auf ihr kleines, süsses Opfer; baute etwa kleine Skripts in Würfel ein, die sie im Vorgarten versteckte und die das Unheil über dieses Grundstück brachte. Aus einem Würfel mach 10, 100, 1000, bis die Region abschmiert ins Nirvana eines geplagten Servers. Manchmal zog sie auch ihre von sinistren Avataren gekaufte Waffe und verpasste dem unten in seliger Kommunikation mit seiner Besucherin vertieften Owner einen Schuss auf die Körpermitte. Dann noch die hochauflodernde Brandbombe mitten ins Gelände, die alles in undurchsichtigen Nebel verhüllte, den Übeltäter inbegriffen. Drehte dann in sicherer Höhe ab und ward verschwunden. Wer vergessen hatte, sich und sein Eigentum zu sichern, der wurde bestraft. Ahnungslos litt das Opfer in seiner Rolle, wusste nicht wie ihm geschehen war. Überall auf dem Sim erschallte plötzlich die schmalzige Stimme George Michael auf dem Sim, oder schlimmer: kicherte ein Torley Linden mit seinem Synthesizer in der Gegend herum. Wie das in der Schnelligkeit abschalten? Schon die blosse Existenz eines netten, gepflegten Grundstücks war genug, um die Lawine an Gemeinheiten loszutreten, die in Margaux schlummerten. Besonders beliebt: sich in die Landkäufe einzumischen, dem Owner das Stück Land wegzuschnappen, bei dem der Preis noch nicht gesetzt war. Und schwupp, entwendet war das Land, dem allzu Langsamen, Verträumten oder dem Newbie aus seiner Obhut entrissen. Ein bedrohliches Armageddon schuf hier der bösartige Avatar! Und jetzt erst wurde die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, sich einen Alt anzuschaffen offenbar: Zur Tarnung konnte er dienen, als Spielfigur, um unentdeckt zu bleiben. Die eigenen Untaten verschleiern konnte er, wenn man VPN benutzte oder auch den Zweitcomputer.
Diese dunklen Mächte, die in Margaux schlummerten, waren aber nicht das Ergebnis eines pubertären Wutanfalls, die in dem Spieler schlummerten. Denn der war mittlerweile schon im besten Menschenalter, der Karriere zusteuernd, von der er immer geträumt hatte: angepasst und mit den Usancen seiner Branche bestens vertraut. Es war eher das Nachholen von dem, was er an verzweifelter Pubertät (noch) nicht ausgelebt hatte werden können. Black Witchcraft einfach, die man immer schon ausprobieren wollte. Und schliesslich ein ultimativer Test, was dem Avatar erlaubt war und was nicht.
Denn all die Regeln, die in der schiefen Balance zwischen Virtueller Welt und realem Leben erst entstehen mussten, galt es zu erkunden. Dies simplen Fragen: „Was war möglich? Was war erlaubt? Was war strikte verboten?“ Was in der einen Welt die Regel war, schien in der anderen möglicherweise anderen Gesetzmässigkeiten zu folgen. Unverrückbar waren die Geldgeschäfte und das damit erworbene Eigentum, das man mit umgetauschten Linden Dollars erwarb. Die galten hier wie dort. Einen Avatar über den Haufen zu schiessen, folgte jedoch schon anderen Regeln. Denn Avatars waren nur in Virtuellen Welten real, ihr Leben galt wohl nichts in der wirklichen Welt. Möglicherweise wurde man In-World gebannt, geächtet, selbst über den Haufen geschossen, weil man sich als Griefer betätigt hatte. Aber die reale Welt kratzte das alles nichts. Und doch gab es auch hier eine Regel: wenn an der Effizienz des Geschäftsmodells von Linden Lab gekratzt wurde.
Zuletzt waren Margaux Raubzüge auch eine Hommage an den hochverehrten William Gibson, der mit seinen Romanen eine ganze Generation von Heranwachsenden zu düsteren Gesellen verwandelte. Es war die anderen Seite der Margaux Lapointe, die fiese, unverantwortliche Seite, die sich hinter ihrer mühsam aufgebauten Fassade von Stärke und Verantwortlichkeit verbarg. Hier, wie auch im realen Leben des Spielers. Wo durfte man denn noch ungestraft widerborstig, böse und destruktiv sein? Es war die Dystopie, die allerorten sich zu regen begann, im Ersten wie im Zweiten Leben. Die Zeit der Finsternis schien gekommen: tatsächlich sprossen überall auf dem Sim der Grunge, die Industrieruinen, die düstere Matrix, der verwüstete Landstrich, die Nacht. Katzen frassen aus Tonnen, giftige Substanzen liefen aus lecken Leitungen, Fremde schossen dich ohne Kommentar mir nichts dir nichts in Stücke. BDSM und Vergewaltigung blühte in schmutzigen Ecken. Es gab Strassen, in die man sich begab, um vergewaltigt und geschändet zu werden. Snuff war plötzlich in. Ganze Regionen waren dem freiwilligen Selbstmord gewidmet. Man konnte sich und anderen beim Sterben zusehen, das galt zunehmend als cool.
Margaux konnte sich dem nicht ganz entziehen: sie durchlebte ihren Jekyll and Hyde und bedauerte stets in nüchternem Zustand, was sie in der Trunkenheit der Nacht angerichtet hatte. Es war aber nicht die Moral, die sie dann plagte, sondern das Gefühl, sich selbst als Demiurgin verraten zu haben.Denn eigentlich wollte sie Welten schaffen und nicht zerstören.
Nach diesen Stunden, wo sie sich wieder auf einen Streifzug durch die verhassten Areale des Mainstreams begeben hatte, um dort ihre Mission zu erfüllen, kehrte sie erschöpft, aber befriedigt auf ihren kleinen Streifen Heimat zurück. Sie überlegte dann stets, ob sie ihren Avatar nicht erneut ausstatten konnte, weg von der kräftigen und gebieterischen Frau hin zu einem mit allerlei Implantaten ausgestatteten Cyborg, der gerade in Mode war. Würde ihr das ihrem Charakter nicht viel mehr entsprechen? Das Abseitige, Verdrängte verkörpern? Einen Avatar kreieren, der die Idioten auf dem Sim aufmischte? Sie probierte Skin und Kleidung, fand sich toll, verstaute aber das Equipment schliesslich wieder beschämt in ihrem Inventar. Der Hang zum Konstruktiven obsiegte: sie blieb Margaux und verdrängte das schlummernde Beast in ihr. Sie war zu brav all das auszuleben, was als Triebimpuls in ihr schlummerte. Dann doch lieber die einigermassen akzeptierte Lesbe geben. Eine Episode waren all die Gemeinheiten, gewiss. Eine traurige Befindlichkeit, so oder so.
Gibson jedoch, den las sie weiterhin, an dessen Eskapaden und körperlichen Gefährdungen berauschte sie sich in Spielpausen. Die Sprawl Trilogie, das Standardwerk, Bibel ihrer in-world Existenz, die sie jedoch ganz fest in ihrem nervösen Pixelherzen verschliessen musste. Gleichzeitig wüsste sie, dass ihn völlig falsch interpretierte. Sie las ihn aus der Perspektive derjenigen, die ein Vorbild brauchten, sie las ihn aus der Perspektive der Griefer von Second Life. Gibson jedoch konnte nicht wissen (und daher verantwortlich sein dafür), was später im Netz passieren sollte. Mit den Augen des Anderen zu sehen, war ein gefährliches Geschäft geworden.
Aber immerhin, der Missbrauch am Eigentum hatte immerhin bewirkt, dass sich Kari intensiv mit den Funktionen des Landmenüs ihres Viewers auseinandergesetzt hatte. Sie beherrschte es aus dem Effeff. Wer wusste, wie man Schaden anrichtet, wusste nur zu gut, was man tun musste, um von den Attacken vorbeileitender Avatar verschont zu bleiben. Manchmal träumte in konstruktiven Momenten auch davon, Landscaperin zu werden und an Aufträgen anderer gegen bare Münze zu arbeiten. Ganze Inseln wollte dann erschaffen: oben in der Luft schwebend hätte sie am Boden Zauberei bewirken wollen, wunderschöne Regionen schaffen, und dabei harte Linden Dollars verdienen. Auch das war freilich ein Traum, den sie sich nie erfüllen würde.