06 The Landladies
Eine vom Bösen geläuterte, elegante und ein wenig gothic gekleidete Margaux Lapointe war es also, die Konsequenzen aus ihrem Leben zog. Nicht mehr wie ein Habenichts wollte sie auf dem Grid umherwandern, nicht mehr den Grid erkunden und bestaunen, nicht mehr die Apokalypse über andere bringen, nein! Die Lehr- und Wanderjahre waren endgültig vorbei. Das drückte sich auch in ihrem Profilbild aus, welches seriös in schwarz-weiss gehalten war und von einer namhaften Künstlerin belichtet worden war. Unter dem Bild stand in aller Klarheit:
“Domme and biz woman. Capable to lead the way. Founder of Broceliande Island, which is now managed by new owners.”
Auch die von ihr angegebenen Gruppen sprachen eine deutliche Sprache: Pussycat Fighters, Fallen Bondage Club, Freebies that Aren’t Crap, Talent Land, Builder’s Tools and Gadgets. Die wehrhafte Demiurgin eben!
Es war an der Zeit, die Dinge in die Hände zu nehmen und eine eigene Welt zu bauen. Das nötige Handwerkszeug besass Margaux ja schon: den Viewer beherrschte sie leidlich (sie war inzwischen auf Firestorm umgestiegen, weil viele behaupteten, das dies ein wirklich professioneller Viewer sei), mit den Bau- und Landwerkzeugen kannte sie sich gut aus und wenn ihre Fertigkeiten da und dort noch ausbaufähig waren, beruhigte sie sich schnell: “Was noch nicht war, konnte im Laufe der Zeit ja noch werden”.
Land besass sie nun auch, eine schmale Parzelle von 2048 m2 zunächst nur, auf der ein Einkaufsladen entstehen sollte. Nach reiflicher Überlegung hatte sie beschlossen, ihren Wirkungsbereich ein wenig auszuweiten und dafür Geld in die Hand zu nehmen. Das “Wenige” war für ihre Verhältnisse schmerzhaft, Land war in der Zwischenzeit eine knappe Ressource geworden und verhältnismässig teuer. Linden Labs hatte in aller Selbstzufriedenheit mit seiner Wertschöpfung begonnen und die Kapitalisierung des verfügbaren Landes energisch vorangetrieben. Künstliche Verknappung war die Devise. Man teilte eine vorhandene Region in Stücke und verdiente häppchenweise auf doppelte Weise: am Grundstückspreis, den man an irgendwelche Landlords bezahlen musste, und an der Miete, die monatlich an Linden Lab zu berappen war. Zudem erwies sich auch der Avatar selbst als Kostenträger: für ihn berappte man eine Jahresgebühr, um Land kaufen zu können. Linden lebte gut davon. Für die meisten Residents jedoch summierten sich die monatlichen Kosten, wenn man neben der Miete auch noch die routinemässigen Einkäufe für Avatar und Klamotten in Rechnung stellte. Ein teurer Spass, den man nur in Kauf nahm, wenn man es richtig ernst meinte.
Aber es waren nicht nur die Kosten, die der Landbesitz insgesamt verursachte, eine Menge anderer Probleme kamen noch hinzu. Die lagen offen vor aller Augen. Der Mut bzw. die Wut zum virtuellen Eigentum hatte sich auf Second Life und insbesondere auf dem Mainland ausgebreitet. Das führte unter anderem dazu, dass sich jeder herausnahm, das zu bauen, was ihm gerade zu Gesicht stand. Ästhetik und Umwelt hatten sich da weit hinten zustellen. Überall entstanden hässliche und überdimensionale Burgen, riesige Klubs, die man von aussen gesehen höchstens als schmucklose Quader bezeichnen konnte, Ferienhäuser im barocken Stil der Pseudo-Neureichen, die sich endlich mal etwas leisten wollten. Halbfertige Bauruinen allerorten, einfach Sandboxen für den eigenen Bedarf. Dass man im öffentlichen Raum konsequent seine pubertären Phantasien hinsetzte, schien die neuen Bauherren nicht zu interessieren. Eigentum als Beleidigung des öffentlichen Interesses war es, was da am Mainland gebaut wurde. Wollte man wirklich so hässlich wohnen? , fragte sich Margaux. Alle verhielten sich so, als hätten sie tatsächlich das Recht, alles zu bauen, was ihnen in den Sinn kam. Und niemand scherte sich um die Ästhetik der Welt. Aber diese Ideologie von Eigentum und Freiheit war trügerisch.
Denn Eigentum des Einzelnen gab es nicht, höchstens ein Nutzungsrecht. In Wirklichkeit besass Linden alles, was es da am Grid gab. Die wie Pfaue aufgeblasenen Landeigner besassen trotz hohem Geldeinsatz nichts, ihre mühsam zugekauften Identitäten eingeschlossen. Alles besass Linden Lab, alles war nur geborgt, Eigentum war nur eine Schimäre für das Fussvolk auf dem Grid. Virtuelles Eigentum war in der realen Welt nichts, aber schon gar nichts wert ausser man konnte es zu Linden Dollars machen. Doch diese Tatsache hatten die Habenichtse auf dem Grid offenbar verdrängt.
Nicht nur Linden sondern auch smarte Grundstücksspekulanten hatten zugeschlagen. Sie nisteten sich im Nachbargrundstück ein, verbauten mit ihren protzigen Werbebanner den Luftraum und versuchten mit allerlei Tricks, den Nachbarn um sein Grundstück zu bringen. Das war wie im realen Leben. Second Life wurde langsam aber sicher hässlich und gemein.
Trotzdem: Das Motto blieb für Margaux: Land musste her! Ohne genügend Land konnte weder ausreichend gerezzed und insgesamt nicht richtig gebaut werden. Ohne Land konnte man seine Träume von einer, wie auch immer gearteten Zivilisation, nicht in die virtuelle Realität umsetzen. Margaux kaufte im Rahmen ihrer Möglichkeiten, vergrösserte den Besitz, gab ihn wegen der rücksichtslosen Nachbarn entnervt wieder auf. Leider war Margaux auch noch in der naiven Haltung befangen, das Mainland lieben zu wollen. Sie merkte, wie gerne sie auf dem vorgegebenem Terrain einer Landschaft baute, das sie behutsam terraformte und mit liebevoll gestalteten, wenn auch durch ihre hohe Primzahl unpraktisch gewordenen Gebäuden schmückte. Ihr Land begann zu laggen, was ihren verzweifelten Bemühungen einen besonderen Akzent gab. Das Haus am Meer mit angeschlossenem Shop und kleiner Tanzbar war eine Zeitlang ihr kleinbürgerlicher Traum. Sie versuchte, ihn sich mit allen Mitteln zu erfüllen und ächzte unter den exorbitanten Grundstückspreisen. Die Idee, ihre Builds als Skyboxen in der beruhigenden Leere des Himmels zu bauen, fand sie zwar technisch interessant, jedoch zog sie es vor, am Boden zu bleiben. Immer wieder scheiterte sie deshalb an den ästhetischen Verwirrungen des amerikanischen Traums. Eine andere, grosszügige Lösung musste her, jene, die den gordischen Knoten mit einem Streich durchtrennte: der Kauf einer Insel!
Auch andere erwarben Land, jedoch mit völlig anderen Absichten. Nicht um darauf zu bauen und sich selbst zu verwirklichen, sondern um das gemeine Fussvolk (zu dem Margaux sich trotz ihres aufgeplusterten Egos auch zählte), so richtig nach Strich und Faden auszunehmen. Und so stiegen schnell gegründete Immobilienunternehmen ins Geschäft ein, kauften billig, schnell und rücksichtslos und vermieteten scheinbar günstig. Anshe Chung war so eine Lichtgestalt, die binnen kurzem von der deutschen Zockerin zur chinesischen Dollarmillionärin wurde, indem sie mit Hilfe grosszügiger Investoren Land aufkaufte und dann auf ihren Dreamlands wiederverkaufte. Monetarisierung des Grid nannte man den Prozess, den auch die Macher von Second Life sehr begrüssten. Jetzt brachte endlich einmal jemand Ordnung in das Architekturchaos. Auf ihren Sims, die sich kolportierterweise auf mehreren tausend Servern befanden, etablierte Anshe, die von Linden liebevoll als “Regierung von Second Life” bezeichnet wurde, ein rigides System von zonierten Grundstücken, auf denen sie energisch ihre Regeln durchsetzte. Regeln wie im Schrebergarten, das war etwas, was man bei den Lindens vergessen hatte. Deshalb wurde man auch mit dem amerikanischem Alptraum konfrontiert.
Aber auch in diesen zonierten Bereichen wollte Margaux nicht leben und arbeiten: sie waren ihr zu langweilig, zu sehr der spiessbürgerlichen und gottgefälligen Ordnung des US-Imperiums angepasst. Wenn sie sah, mit welch unerbittlicher Konsequenz ganze Regionen in mickrige (und meist flache) Regionen aufgeteilt, mit ein paar wenigen Palmen versehen und vielleicht auch mit einem Billigappartment aufgemotzt wurden, würgte es sie im Hals. Und links und rechts vom eigeneren Grundstück die braven Nachbarn, von denen man nur durch einen schnurgeraden Wassergraben getrennt war! Wenn sie die Regeln der Grundherrschaft durchlas, begann sie zu kotzen. Anshe Chung mochte niemand so richtig: höchstens die Börsenblätter und rechtsliberale Presse, die begeistert mitgingen, wie die Kapitalisierung in die Spielwelt Einzug hielt.
Mit grosser Belustigung Schadenfreude nahm Margaux deshalb die Aktion einiger mit Sicherheit sexistischer Griefer wahr, die bei einer In-World Pressekonferenz der Millionärin fliegende Penisse auf ihren Avatar hatten herabregnen lassen. Nachdem sich Anshes Avatar in höchster Not aus dem Sim teleportiert hatte, crashte auch ihr Fluchtort. Wichtig war: jemand hatte der Prinzessin die Show gestohlen und das war gut so. Und man hatte es ihr endlich gezeigt! Was sie aber nicht aufhielt, weiterhin Geld zu scheffeln. Denn die Braven behielten in Second Liefe immer die Oberhand.
Zum Sterben langweilige bis hässliche Grids war die Folge der verfehlten Landespolitik von Linden Lab. Aber das Geschäft mit dem Land summte. Unsagbar mickrige Prefabs wurden in die Landschaft geklotzt, die frappant an die kleinen Reihenhäuser Floridas erinnerten. Überhaupt schien die Architektur Floridas die architektonische Leitlinie einer ganzen Generation von Avatars geworden zu sein. Amerikanische Spiessbürgerlichkeit zog ein, überall, mit ihr die barocke Geschmacklosigkeit von Neureichen, die ihr tristes reales Leben auf Märchenschlössern in einer Traumwelt zu vergessen suchten. Der Mainstream begann sein Zepter über die virtuellen Welten zu schwingen, gerade als Margaux, angewidert von der Kleinbürgerlichkeit und Geschmacklosigkeit ihrer Umgebung, die kreative Seite an sich entdeckte. Sie war doch Künstlerin, nicht Handwerkerin! Die Schönheit sollte siegen, wenigstens auf ihrem Grid.
Denn Margaux näherte sich einem gewissen handwerklichen Höhepunkt in Second Life: sie wusste nun zu bauen (richtig gut), zu skripten (mässig) und zu terraformen (exzellent). Und sie baute ihre Fähigkeiten kontinuierlich aus, immer wieder unangenehm abgelenkt von den Anforderungen, die das reale Leben an sie stellte. Da waren die Karriere im mittleren Management, die beruflichen Reisen in Europa und nach Asien, anstrengende Beziehungen, zahlreiche Umzüge und gesundheitliche Probleme. Ein Leben halt, jenseits des Perfektionismus eines perfekten Avatars. Ein wenig Alltagsleben gab es deshalb auch in ihrem Zweiten Leben: etwa stammte die Idee zu ihrem französischen Profilnamen von jener Stadt, in dem sie drei Jahre ihres Lebens verbrachte: Paris. Dort war sie virtuell so richtig glücklich, befreit vom Stress der alten Freundschaften und Beziehungen ihrer Heimatstadt, sowie den Verpflichtungen des Alltags. Arbeit, Paris erkunden und Second Life: da liess sie es im Ausland richtig krachen.
Virtuell waren es die Jahre des ersten Booms der Virtuellen Welten, dessen Frontrunner Second Life war. Kari war mit ihnen und entwickelte sich zur Demiurgin. Gerne floh sie auf ihren Grid, wenn ihr das sogenannte reale Leben wieder zu dicht auf den Fersen war. Und sie baute: ein riesiges Einkaufszentrum, zu der sie die ihr bekannten Handwerker einlud, dort ihre Kreationen verkauften; den Nachbau eines bekannten Museums, in dem sie Kunst ausstellte und verkaufte; und schliesslich eine recht perverse und dabei auch im Grunde kindische Pony Girl Farm, in der sie die als Pferdchen verkleidete Bondageopfer ihre Pirouetten drehen liess.
Schuld daran war ihre Bekanntschaft mit Yhis Kohana, ein aus Spanien stammender Avatar. Diese stand eines Tages plötzlich neben ihr. Sie hatte sich in das Einkaufszentrum hinein teleportiert, an dem Margaux gerade arbeitete. Sie sollte Margaux mehr beeinflussen, als sie sich später jemals eingestehen wollte. Das Traumpaar Yhis und Margaux sollte die Welt verändern.