07 Die grosse Unfreiheit

Yhis war ein Avatar mit spanischer Muttersprache und schlechtem Englisch. Dafür war ihr Avatar eine beeindruckende Erscheinung. Sie glich Betty Page bis ins Detail: vom glatten, kunstvoll gefalteten Haar, bis zu den engen Vintage Röcken, den provokanten Blusen und gewagten Latex Anzügen. Margaux’s Vermutung bestätigte sich schon sehr bald: Bondage war tatsächlich der bevorzugte Lebensstil des Betty Page – Avatars. Sie war aus der einschlägigen Szene und switchte elegant zwischen Dominanz und Unterwerfung, ohne dabei Margaux jemals einen Antrag zu machen. Das Gegenüber war eine starke und autarke Frau, fanden sie beide. Aber abseits ihrer unübersehbaren physischen Attraktivität, die Yhis mit einem sehr gemessenen, manchmal auch zurückhaltenden Auftreten betonte, hatte sie auch simtechnisch viel auf dem Kasten. Yhis war eine begnadete Builderin, eine Fähigkeit, mit der sie guten Geschmack und ein hohes Mass an Programmierkenntnissen verband. Ihre Designs waren einfach umwerfend: Spanisches Vintage mit sehr viel tiefbraunem Holz und hoher Detailgenauigkeit. Ein Prim – Fresserin, wie Margaux spöttisch meinte, auch weil sie immer mögliche Kosten im Kopf hin und her wälzte. Yhis schuf sehr verspielte, aber sehr präzis gebaute Builds, die sich um den möglichen Lag nur selten kümmerte. Ihre Kreationen, die sie Margaux nur zögerlich präsentierte, waren einfach umwerfend und hatten das Potential, auf dem von Linden Lab dominierten Market Place der gern geübten Schlampigkeiten zu reüssieren. Yhis war Alles in Einem: Eine originelle Designerin, begnadete Builderin und solide Programmiererin, und das alles auf sehr hohem Niveau. Avatars mit solchen Fertigkeiten waren auf dem Sim eine hoch geschätzte Spielgefährten. Margaux konnte sich auch Jahre danach gut an das Tiny – House im andalusischen Stil erinnern, das Yhis einfach so, aus Jux und Tollerei gebaut hatte. Sie hatte dafür bewusst Masse verwendet, die im Real Life nicht aber auf Second Life Standard waren und damit eine für den Grid kaum bewohnbare Minivilla geschaffen, in denen der Umgang mit der Kamera kaum mehr möglich war. Ein klaustrophobes Haus, auf das sich Margaux nur sehr ungern einliess. Dieser Mut, sich Hals über Kopf auch in unsinniges und nicht zielführendes Terrain vorzuwagen, einfach um des Experiments willen, imponierte Margaux überaus. Margaux roch den Braten sofort: mit Yhis als Partnerin könnte man Grosses schaffen.

Zwischen beiden funkte es augenblicklich, trotzdem unternahmen sie anfangs nur vorsichtig – höfliche Annäherungsversuche, denn überstürzte Vertraulichkeit und distanzloses Pläne – Schmieden erschien beiden unangemessen. Man tastete einander ab, vorsichtig, aber mit grosser Sympathie füreinander. Zu oft waren beide schon von den leicht hingeworfenen Versprechungen der Grid – Grossmäuler getäuscht worden, die sich zunächst aufspielten, dann die Erfüllung der getroffenen mündlichen Vereinbarungen vor sich herschoben und schliesslich, als es immer peinlicher wurde, für immer im Nirvana des Grids verschwanden. Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit im Spiel war nicht gerade die Stärke des durchschnittlichen Residents: zu keinen Zeiten erschien diese Tugend als cool und war deshalb nicht verbreitet. Viele wollten Spielchen treiben aber nur wenige das Spiel wagen. Das Publikum war jung und flüchtig; wie elektronische Schmetterlinge habe es ab, um am nächsten Hindernis aufzuschlagen. Einen verlässlichen Avatar zu finden, mit ihm arbeiten und leben zu dürfen, das war eine Seltenheit und stellte eine ungeheure Chance dar.

Tatsächlich stieg Yhis in der ihr eigenen, charmant-spritzigen Art nach gemessener Zeit in die hochfliegenden Pläne von Margaux ein. Man begann sich zu vertrauen. Man baute gemeinsam an Margaux Einkaufszentrum und befüllte dort Verkaufsautomaten (Vendors) mit den frühen Kreationen von Yhis. Schliesslich begann man, Kreative dazu zu bewegen, ihre Vendors in dem von Margaux aufgebauten Einkaufszentrum einzustellen, ja bot in Einzelfällen sogar freie Plätze an.. Die ersten beiden Wochen waren meist kostenfrei, dann war ein wöchentlicher, vernünftig hohes Entgelt fällig. Diese Idee war nicht nur ein kleiner ökonomischer Erfolg, sondern festigte auch den Zusammenhalt zwischen beiden. Selbstverständlich war Yhis am Erfolg beteiligt, Geiz war nie ein Wesenszug von Margaux gewesen. Das Einkaufszentrum wuchs und bekam eine nicht beabsichtigte aber kaum überraschende Schlagseite: Bondage-Ware.

Es war ein fröhliches Treiben: Yhis und Margaux verbrachten Stunden in ihrem Einkaufszentrum, wehrten eventuelle Griefer mit Bravour und Erfolg ab, sprachen mit Verkäufern und betreuten ihre Kunden. So lernten sie viel über die Szene, auch ihre geheimen, unsichtbaren Mechanismen, über die man nur durch intensive Gespräche und kleine Freundschaften Kenntnis erlangen konnte. Geheimnisse, Phantasien, Obsessionen, Bedürfnisse, Inspirationen: die lagen brach auf dem Grid, mussten nur aufgehoben und bearbeitet werden. Letzendes ging es um die Psychologie der Residents, denen man entsprechen wollte. Während sich die eher pragmatisch orientierte Margaux um das Management ihres Ladens kümmerte, die Vendors optimierte, an den Kosten schraubte und immer neue Verkäufer akquirierte, fungierte Yhis als der kreative Teil ihrer Partnerschaft. Sie führte eine Art Skizzenbuch: auf den Notizkarten in ihrem Viewer hielt sie die Ideen und Pläne fest, die da in ihrer Phantasie wucherten, wenn sie von ihren Streifzügen am Grid zum gemeinsamen Projekt zurückkehrte. Dann verschwand sie wenig später wieder und bastelte auf der Sandbox ihres Vertrauens an ihren eigenwilligen Kreationen. Sie war unabhängig, aber verlässlich.

Ihr gemeinsamer Laden war ein Erfolg: die Investitionen in Land und Ausrüstung begannen sich zu amortisieren und Margaux konnte jedes Monat eine kleine Gewinnbeteiligung an ihre Partnerin ausschütten. Das hob die Laune ungemein und motivierte sie, die nächsten Schritte ohne Zögern zu setzen.

Man war sich also näher gekommen, auch körperlich. Margaux war von der Körperlichkeit ihres Gegenübers angezogen, bis hinein in eine virtuell erotische Dimension, deren es stets an Erfüllung fehlte und die deshalb immer drängender wurde. Eines Tages, als sie wieder einmal gemeinsam Phantasien gewälzt hatten, wie man denn noch grösser und erfolgreicher werden konnte, standen sie sich, nicht nur bedingt durch unkontrollierte Bewegungen des Cursors, wieder einmal besonders nahe, so nahe, dass unwillkürlich die Erotik der Matrix zu knistern begann. Schlicht gesagt: Margaux wäre Yhis gerne an die Wäsche gegangen. Fast riechen konnte sie ihr Gegenüber, die mit leicht geröteten Wangen und zart duftendem Arbeitsaroma vor ihr stand. Das Leder an ihrem Körper duftete. Hirn und Hormone spielten bei Margaux mit einem Male verrückt. Sie drängte sich noch näher an Yhis heran, wollte an ihr Höschen, ihre Hand in ihre Latzhose und zwischen ihre Beine drängen. Sex als Akt des Vertrauens? Privater Bezug einer beruflichen Partnerschaft? Einen Versuch der Unterwerfung wagen? Die Kreative unterjochen, zum beiderseitigen Nutzen?

Wieder einmal all die Missverständnisse. Natürlich hatte Margaux die Karte der Dominanz gespielt und durchblicken lassen, dass man sich auch, auf gleicher Machtebene gefahrenfrei sexuell begegnen könnte. Yhis schreckte zurück: auch sie war eine Domme und konnte trotz aller Sympathien und blühender Zukunftsperspektiven nicht mehr geben, als sie ohnehin schon gab. Und so passierte sie, die zweite Zurückweisung in Margaux kurzem Leben als Avatar: Yhis verweigerte sich dem stürmischen Antrag, entwand sich dem zudringliche Überrumpelungsversuch. Sie tat das charmant, aber sehr bestimmt. Es war wie ein verschmitztes Augenzwinkern: Margaux wisse doch Bescheid! Bis hierher und keinen Schritt weiter, war dann die Folgebotschaft, mit Ernst aber ohne Aggression vorgetragen. Dann wieder Konzilianz: Quasi als Entschädigung bot sie Margaux die Partnerschaft an und übernahm grosszügig den Obolus für Linden Lab, denn sogar für eingetragene Partnerschaften war nun zu zahlen. Dafür stand die Partnerin im Profil des jeweils Anderen: weithin sichtbar für die Neugierigen auf dem Grid. Es war ein Entschluss, den Margaux lange nicht bereuen sollte: sie waren nun ein Paar. Zwar von anderer Qualität als Margaux in ihrer schwachen Stunde angestrebt hatte, aber immerhin sehr wirksam und der Sache förderlich.

Dieses neue Verhältnis zwischen beiden wurde wenige Tage später durch einen gemeinsamen Plan besiegelt. Es war ein wenig wie die berühmte Flucht nach vorwärts. Eine Insel wollte man kaufen, darauf Produkte produzieren und diese im eigenen Laden verkaufen. Margaux würde die finanzielle Belastung zunächst übernehmen und dafür durch Einkünfte aus dem Einkaufszentrum entschädigt werden. Die Insel sollte sich später selber tragen und sie finanziell nicht mehr belasten. Yhis brachte ihr Fähigkeiten ein, die sie durch den Verkauf ihrer Kreationen zu Barem machen wollten. So würde beiden geholfen sein. Das Thema der Insel, die man erwerben wollte, war zunächst unklar, jedoch verhalf der Zufall den beiden zur zündenden Idee.

Eines Tages war in ihrem Einkaufszentrum eine Gruppe von eigenartigen Wesen erschienen. Das waren zwar Menschenavatars, aber mit eigenartigen Accessoires, die sie voller Stolz mit sich herumtrugen: Pferdemähnen, Trensen, Halfter, Stirnriemen, Zaumzeug, Sättel, Schwänze und Hufe – meist in den sanften Farben von Ocker, Pink oder Hellblau gehalten. Die Körper selbst seltsam unruhig, zitternd vor Ungeduld und Erwartung, ständig in Bewegung, man wieherte andauernd und gab zudem auch andere hippoide Laute von sich: ein Scharren, ein Scheuern, ein Schnauben, dazwischen kindisches Gejaule. Das waren kleine Zirkuspferdchen, die da fröhlich und leicht verwirrt durch die Verkaufsräume tobten und höflich, ja ganz unterwürfig sich nach Pony Ausrüstung sich erkundigten. Margaux rieb sich vor Verwunderung die Augen, Yhis war überaus interessiert, neugierig und aufs Äusserste angespannt. In einem Gespräch erfuhr man die doch etwas monströse Neuigkeit über das, was sich diese zierlichen Pferchen eigentlich von Second Life erwarteten: Learning the Ropes! Diese merkwürdige Gruppe war auf der Suche: nach einem Stall, nach Trainingsmöglichkeiten, nach Pony Tack, nach einem zugänglichen aber zugleich strengen Owner, nach einem Leben in Unfreiheit. Yhis hörte verständig zu: durch ihre Erfahrung mit den Verführungen von Bondage Praktiken verstanden sie die Bedürfnisse der fröhlichen Pferchen vor ihnen vollkommen. Da war ein Welle aus dem wirklichen Leben in Second Life herein geschwappt, die als Pony Play bezeichnete wurde, eine Unterart des Pet Play, wie Margaux später nachlesen konnte. Es ging um das Machtgefälle zwischen dem Besitzer und Pony, um den Gehorsam und die Geschicklichkeit der unterwürfigen Avatars, die zum Pony geworden waren. Vorgeführt werden, und das vor möglichst grossem Publikum war die grosse Sehnsucht der Pferchen, die sich auf Farmen und Reitbahnen einfanden, ja sich selbst sogar in Diskotheken vorführen sollten. Auf den weitläufigen Farmen der perversen Besitzer jedoch passte das Vergnügen gut. Es war Narzismus pur, der dort waltete und mit viel Hingabe gepflegt wurde. Und es kam dem spiessbürgerlichen Tendenzen vieler ihrer Besitzer entgegen: denn es ging in letzter Konsequenz nie um den sexuellen Akt selbst. Welche Stallbesitzer hätten von sich sagen wollen, sie hätten ihre Tiere gefickt? Der Reiz lag ganz woanders: in der offen zur schau getragenen Dominanz und dem unbedingten Gehorsam, der den Downern entgegengebracht werden musste, weil es sonst vom Heimatstall verstossen wurden.

Der Reiz, den dieser neuartige Kink auf Yhis und Margaux ausübte, war ein mehrfacher. Ponyfarmen waren gefragte Orte, um Wettbewerbe auszutragen. Sie benötigten Platz und Pflege, sorgfältige Planung und penible Umsetzung. Sie brachten Traffic und erhöhten den Bekanntheitsgrad. Gepflegte Turfs waren gefragt: man sprang ja nicht leichtfertig auf irgendwelchem versifften Gelände herum und machte sich zum Affen! Kombiniert mit mehreren Einstellplätzen, auf dem Frau sich ein paar gehorsame Ponys hielt, und begleitet von einer zugewandten Trainerin war eine Ponyfarm der ideale Ort, um sich in der jungen Community zu platzieren. Ponyplay boomte, genau so wie Second Life es tat.

Wie jeder Fetisch lebte die Zunft vor allem von der Kleidung und der Ausrüstung, die das sublime sexuelle Vergnügen steigerten. Denn es gab nicht nur Show Ponys, Sulky Ponies und Reitpferde, sondern auch Zuchtponies, zu dem sich vor allem die männlichen Avatars angezogen wurden. Rund um die Auftritte dieser ungleichen Paare mit gleichem Interessen wütete eine Materialschlacht an Pony Tack, das einer Kreativen, die Yhis es war, das Herz laut schlagen liess. Was man da wohl alles an Produkten kreieren konnte. Vom Pferdebedarf der Realen Welt auf den Bedarf von Avataren zu schliessen, klang erfolgversprechend, der Gedanke daran begeisterte Yhis. Die Managerin in Margaux wiederum konnte sich den Chancen, die ein solches, wenn auch etwas kindisches Gewerbe, bot, auch nicht entziehen: Eine zukünftige Farm auf dem neuesten Stand der Ponyplay – Technik würde heimatlose Ponys in Massen anziehen und so für einen guten Umsatz in einer Region sorgen. Gleichzeitig schien der Bedarf an geschmackvollem Ponytack mit funktionellem Design sehr gross zu sein, insbesondere dann, wenn er gut geskriptet war. Das war die Marktlücke, auf die beide Frauen nur gewartet hatten.

Wie immer in Second Life ergab Eines das Andere. Da hatte in den frühen Tagen der Wirrungen auf Second Life eine gewisse Marine Kelley begonnen, ihre sexuellen Obsessionen auf die Produktion von Bondage – Waren zu fokussieren. Diese waren nicht nur ganz ordentlich in ihrem Design, sondern Marine begann sie zudem zu skripten und damit mit jenen Funktionen auszustatten, die einem Besitzer viel Macht über die Bewegungsfreiheit über alle Unterwürfigen gab, die diese Ausrüstungsgegenstände trugen. Marine brandete ihre Produkte als eine Marke, die in die Geschichte von Second Life eingehen sollte. Sie nannte sie „Real Restrained“, ein Name und eine Ware, die heute noch existiert. Eine Reihe von Produkten entstand, die den Markt im Sturm eroberten: Halsbänder, Knebel, Hundeleinen, Hand- und Fussfesseln und was man sich als einschlägig veranlagter Lifestyler sonst noch wünschen konnte. Ihr Meisterstück lieferte Marine jedoch, als sie begann, einen Viewer zu entwickeln, der das Bondage – Erlebnis noch wirksamer zu gestalten verhiess: den Restrained Life Viewer. In ihm konnte man bei Bedarf seine Bewegungsfreiheit dem dominanten Part überlassen und wurde so, mit den geeigneten Halsband ausgestattet, zum Pseudo – Eigentum des verehrten Gegenübers, dem man die Macht über seinen Avatar überliess.

Viele fanden diese Innovation mehr als kewl und so setzte sie sich in Windeseile durch auf dem Grid, der stets nach Neuem und Aufregendem dürstete. Die BDSM Szene jubelte und der Konsum der Produkte eilte von einem Höhepunkt zum Anderen. Im Hexenkessel der Eitelkeiten sorgten die Produkte von Marine Kelley aber nicht nur für Zustimmung und Begeisterung, sondern auch für Missgunst und Ablehnung. Offenbar hütete Marine ihre Erfindungen wie ihren Augapfel und liess sich von keinem in die Karten sehen. Der Code ihres Viewer sollte ihr Geheimnis bleiben, über den möglichen Tod ihres Avatars hinaus. Aber das war nur schwer mit den vielen Bugs vereinbar, die die massenhafte Verwendung des Viewer mit sich brachte. Egomanische Heimlichtuerei tat dem Produkt nicht gut. Im Gegenteil, der „Closed Garden“ der Entwicklerin wandte sich sogar gegen die Verbreitung des Clients. Die Anfälligkeit des RLV für Bugs war in aller Munde. Und so atmete die gesamte Community auf, als durch einen Zufall der Quellcode an die Öffentlichkeit gelangte und eine begnadete Skripten namens Kitty Barnett ihren eigenen Viewer entwickelte, dessen Code später als RLVa in den Firestorm – Viewer eingebaut wurde. Damit stand er allen zur Verfügung und man benötigte nur mehr ein ordentlich geskriptetes Stück Ware, um sich in die Obhut einer Herrin oder eines Meisters begeben zu können. Eine Chance, die Yhis für ihre Produktion gerne nutzte. Ein Arsenal an Ponytack verliess wie auf dem Fliessband den Workshop von Yhis Khorana.