08 Maison Brocéliande

Also erwarb man die Insel und benannte sie Brocéliande, nach dem legendären verwunschenen Wald, in dem der Legende nach einst Merlin, König Arthur und die Herrin vom See gewirkt hatten. Es war der mystische Ort des europäischen Mittelalters, dem sich sowohl Yhis als auch Margaux sehr verbunden fühlten. Diese romantische Name sollte eine Art Gegenpol zu den öden Reproduktionen amerikanischer Farmen des mittleren Westen werden, ein europäisches Stück Bauernhof. Man fühlte sich den Welten des Cervantes und König Arthurs ein Stück weit mehr verbunden als der platten Welt Supermans und Robins. Ein Name von der Aussagekraft der Frilly Filly Farm etwa, eine damals schon damals bestehende Ponyplay Farm in Second Life, kam für beide nicht in Frage. Man wollte etwas Besonderes, etwas, das sich auf europäische Traditionen berufen konnte. Schliesslich waren die Kreationen von Yhis der Zeit des Don Quijote nachempfunden.

Maison Brocéliande hiess die Farm nun präzise und so wurde sie auch eingetragen. Manchmal tauchte auch der Name Foret Brocéliande auf und Kari wusste heute nicht mehr, wie es zu der Doppelgleisigkeit der beiden Namen gekommen war. Wie auch immer: auf diesem Stück Land, das ein kleines Vermögen kostete, baute man gemeinsam die neue Farm auf und verkaufte letzten Endes Unmengen von Ponyplay – Ausrüstung. Man veranstaltete rauschende Feste und schillernde Reitwettbewerbe. Man setzte sich in Szene, warb um das neue Stück Land so gut man nur konnte. Der Name machte die Runde und schliesslich war man ein wichtiger Faktor der Ponyplay Szene geworden. Bewusst stellte Margaux ein wenig Überheblichkeit zur Schau, die sie als Teil ihrer Corporate Identity instrumentalisierte. Man stellte sich ein wenig ausserhalb der herrschenden Unkultur und betonte immer wieder, dass man zur Elite des Spiels gehören wollte. Die meisten Beobachter gaben diesem Elitedenken wohl recht, denn der Rennplatz war wunderschön geworden und der Einkaufsladen sehr exquisit. Zum grossen Renner wurden überraschenderweise die (zugegeben etwas grausam aussehenden) Reitsporen, die Yhis erfunden hatte. Sie schafften es mit diesem Produkt trotz eines kleinen Produktionsfehlers sogar bis auf die Titelseiten eines Fashion Zines. Mit ihnen an den Beinen konnten sich die eitlen Owner nun so richtig als die Meister:innen ihrer Ponys oder ihrer Lebensgefährten fühlen. Der Clou an den Reitsporen war, dass sie blinkten und beim daran: sie blitzten und beim Gehen ein leises Klirren von sich gaben. Dieser geniale Eingfall von Yhis fand in der Zeitschrift „Second Life Fetish Fashion“ folgende Würdigung:

„A gift from my favorite pony girl, the characteristic “shling, shling” sound adds just the right touch of Western to pony play. They bling as well as shling.. I don't know how to turn the bling off – soon as I do, I'll let you know. They're lovely, you'll probably want to wear them with your favorite boots.“

Das war eine Aufforderung zum sofortigen Kauf, und tatsächlich: alle kauften, oft auch mehrere Sets, um ihren Freunde zu beglücken. Yhis wurde zum Star von Brocéliande und zum gefragtesten Produzenten von Pony Tack: was sie in einen emotionalen Zwiespalt versetzte: denn langsam aber sicher gingen ihr die entsprechenden Ideen aus.

Die Ponys kamen, die Ponys gingen, einige blieben gerne. Sie nahmen regelmässig an den lokalen Wettbewerben teil und kauften auch gerne in dem hübschen Laden ein, den Yhis mit viel Herzblut eingerichtet hatte. Die Platzhirschen auf Second Life ärgerte man gut und gerne, indem man sich einfach nicht an die Regeln hielt, die sie in aller Selbstherrlichkeit über jedwede Veranstaltung verhängen wollten. Wettbewerbe sollten bestimmten Regeln entsprechen und überall auf dem Grid gültig sein. Eine Art FIFA für Ponyplay sollte ihrer Ansicht nach entstehen, mit all den unappetitlichen Begleiterscheinungen im Marschgepäck. Vereinheitlichung und Standardisierung eine Art getarnte Strategie, um die Herrschaft über Neuankömmlinge auszuüben. Die Standards der grossen Ställe sollten die Standards aller werden und damit die Dominanz der Trendsetter absichern. Dagegen wehrten sich Margaux und Yhis mit all ihrer Kraft: ästhetisch, spieltechnisch und in ihrem Verhalten den Ponies gegenüber. Avatars zu brechen und sie so in eine stummes und gefügige Viehherde einzugliedern, wie dies gerne auch in die Profile einiger Ställe eingetragen wurde, war ihr Ding nicht. Lieber förderte man auf Brocéliande seine Pferdchen, motivierte sie und stattete sie mit schönen Kleidungsstücken und ausgeklügeltsten Accessoires Marke Yhis aus. Brocéliande war so auf dem Grid bald ein exotisches Ärgernis aus Europa, das die Regeln bewusst und ohne schlechtes Gewissen brach und die Grenzen zwischen Pony und Owner verschoben. Die Besitzerinnen Frilly, Filly Farm, ein Platzhirsch der Szene bis heute, schäumten. Sie ärgerten sich Grün und Blau über die anmassenden „Neuen“, die sich um ihre Regelwerk kaum kümmerten und trotzdem von Woche zu Woche an Bekanntheitsgrad dazu gewannen. Konflikte entlang der Rennbahnen waren vorprogrammiert. Auf zwei Farmen erhielten Yhis und Margaux sogar Platzverbot.

Was war das für ein Aufschrei, als eine der Besitzerinnen von Brocéliande in voller Ponygirl – Montur auf dem Platz der FFF erschien, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Ein Owner gab ein Ponygirl, anstatt genüsslich am Rande der Rennbahn zu stehen und geschmäcklerische Urteile über die Ponies abzugeben. Yhis war so frei, wollte sie doch ihre eigenen Produkte unter Wettbewerbsbedingungen ausprobieren und damit auch ein wenig zu provozieren. Seht her, wir von Brocéliande sind ganz anders! Bevor die anwesenden Wettkampfleiter einschreiten konnten, sprang das Pferd in Lack und Leder schon auf dem Turf hinaus, mit wippenden Kopfschmuck, Ledergamaschen, glänzendem Geschirr und laut klirrenden Hufen. Nicht, dass sie den Wettbewerb gewonnen hätte, aber das war in dieser Situation gar nicht notwendig. Alle Augen waren auf Yhis gerichtet, auf dieses prächtige, vor Kraft und Stil vibrierende Wesen, das die Fahne von Maison Brocéliande vor sich hertrug. Sie galoppierte unbeschadet als Dritte durch das Ziel, fühlte, wie die Augen aller auf sie gerichtet war, wieherte aus voller Kraft und war im nächsten Augenblick verschwunden. Teleportiert auf ihre private Sandbox, die ihr Margaux in 3000 Meter Höhe auf Brocéliande eingerichtet hatte. Dort wertete sie ihren Lauf aus, und schraubte an dem heimlich bei ihrem Lauf mitgeführten Jump – O – Meter weiter. Der Test war erfolgreich und sein virtuelles Gegenstück wurde sogleich auf dem heimatlichen Rennplatz installiert. Wieder eine Erfindung, die sich bewähren sollte: Ab nun konnte man die Geschwindigkeit des Rennpferdes einfacher messen als bisher.

Auch Margaux tat das ihre, um das Establishment der Pet Player zu verärgern. Auch sie verwischte die Grenzen zwischen Dominanten und Unterwürfigen. Eines Tages hatte sie ein etwas derangiertes Pony am Rande ihrer Reitbahn aufgefunden und nach dessen kläglichem Flehen, es in den heimatlichen Stall aufgenommen. Schluchzend hatte der Avatar davon erzählt, wie er von Farm zu Farm gewandert war, nur um kommentarlos abgewiesen zu werden. Kari hatte den Namen dieses bedauernswerten Geschöpfes leider vergessen, welches offenbar im realen Leben an schwerer Dyslexie litt und mit dem man daher nur sehr schwer schriftlich kommunizieren konnte. Zudem war auch seine Motorik nicht koordiniert, sodass es manchmal wie verwirrt durch die Gegend galoppierte oder eben lange Zeit gar nichts tat. Das Pony war unberechenbar, nicht zu disziplinieren und von der Naivität einer Unbedarften. Dennoch war sie committed, wie man so schön sagte und loyal wie niemand sonst auf dem Grid. Sie störte überall, nur nicht auf Brocéliande. Dort genoss sie ihr Leben, toleriert von den Besitzern, die ihr immer zuhörten und meist zu entschlüsseln wussten, was das Wesen zu sagen hatte. Und man ermöglichten ihr, mit den anderen Ponies von Brocéliande zu trainieren, was viele nicht verstehen wollten. Dennoch trug auch dieser Aussenseiter sehr zum Stil von Brocéliande bei.

Viele kamen nach Brocéliande, um sich umzusehen. Manche waren begeistert, blieben, bewarben sich um einen Platz im Stall, was ihnen sehr gerne gewährt wurde. Eines hatten die beiden Betzerinnen freilich ausser Acht gelassen: dass die Pferchen des eigenen Stalles natürlich, wie viele anderen Devoten in Second Life auch, unaufhörlich nach Aufmerksamkeit gierten. Yhis überforderte dies, war sie doch mit ihrer schöpferischen Kraft und dem ihr eigenen spanischen Temperament, auf andere Dinge fokussiert als ständig für Andere da zu sein. Auch Margaux kam das eingeforderte Training nicht gerade entgegen. Überhaupt fand sie die ihr anvertrauten Ponys zu kindisch, um sich mit ihnen abzugeben. Auch die ständig vor sich hergetragene Eitelkeit der Schaupferdchen aller Provenienz fand sie unerträglich. Sie interessierte allein das Geschäftsmodell, welches sie auf Brocéliande entwickelt hatten und arbeitete ständig an dessen Optimierung. Der Pflege von Narzissmus geplagten Ponies wollte sie beileibe keine Aufmerksamkeit schenken.

Die Lage wurde allmählich prekär: so viele Ponies, die nach Aufmerksamkeit dürsteten und die sich nach erfolglosem Werben enttäuscht von der Farm abwandten, um sich eine neue Heimat zu suchen. Lange würden sie diesen Pony Drain nicht mehr durchhalten können und natürlich würde ihre Respektabilität darunter leiden. Man musste sich dringend nach Trainern umsehen, die bereit waren, diese Aufgabe freiwillig und mit Hingabe zu verrichten.

Überraschenderweise brachte die von den Erfordernissen des Tages etwas abgehobene Yhis die Lösung mit nach Hause, in Gestalt eines adretten deutschen Avatars mit dem Namen Claudia Svendsen. Diese war dem Ponyplay zugetan und durchaus motiviert, als man ihr den Posten einer Cheftrainerin anbot. Man versicherte ihr, dass sie, wenn sie entsprach, weitgehende Kompetenzen und Verantwortung würde übernehmen können, vielleicht eines Tages auch zur Miteigentümerin von Brocéliande würde avancieren können. Und tatsächlich, dies ist bis heute im Profil von Claudia Svendsen zu lesen. Trainerin, Mit-Eigentümerin und Pony von Brocéliande. Während das von Margaux aufgenommene, leicht verrückte Pony nicht gerade hilfreich für systematische Arbeiten auf Brocéliande war, erwies sich Claudia als wichtige und notwendige Bereicherung. Sie hatte bestimmte Vorstellungen für die Verbesserung der Rennbahn, die von Margaux provisorisch gebaut worden war, leitete die Pferderennen und kümmerte sich liebevoll um die ihr anvertrauten Ponies. Sie war wie diese eine nach Aufmerksam gierender devoter Avatar.

Der Besucherstrom von und nach Brocéliande stabilisierte sich. Claudia war ständig zugegen und ging neben ihren eigentlichen Aufgaben Margaux auch zur Hand, wenn Not an der Frau war. Sie gehörte weniger zu den kreativen Charakteren auf Second Life, war aber, zufrieden mit der Verantwortung, die man ihr übertrug. Regelmässig stand sie an den Wochenenden auf ihrer Farm und kümmerte sich um das Schnauben und Traben der freudig erregten Pferchen, die unruhig in ihren Ställen auf sie warteten. Während Yhis weiterhin unter Hochdruck an ihrer Produktion arbeitete, entspannte sich das Leben für Margaux nun deutlich. Sie konnte sich dem weiteren Ausbau ihrer Insel widmen und Vieles vorantreiben. Rund um einen See ordnete sich die Infrastruktur an: ein Landungsplatz aus Holz, den Yhis nachträglich mit einem wunderschön gesprinteten Brunnen versah; den Pferderennplatz mit integriertem Tachometer, die hölzernen Stallgebäude mit den wunderschönen, altertümlichen Zäunen und schliesslich das gemütliche aber sehr funktionale Einkaufszentrum. Gemütliche Wege zwischendrin mit Ruhebänken, eine massvolle Begrünung mit dem Besten, was die Jahre 2007 und 2008 in Second Life zu bieten hatte. Über allem schwebte auf dem Dach des Einkaufszentrums das Logo der Mason Brocéliande, ein überdimensionales MB, das von einem goldenen Hufeisen umrahmt war und sich langsam um die eigene Achse drehte. Das alles war schön, sehr schön sogar und erfüllte Margaux mit der stillen Befriedigung, es endlich auf dem Grid geschafft zu haben.

Aber wie immer, wenn dMargaux in ihrem Leben Dinge erreicht zu haben schien, machte sich in ihr eine gewisse Unruhe breit. Mit der Zeit fand sie das Pony – Getue mit seinem kleinbürgerlichen Philistertum unerträglich. Es war verlogen, in dem es Sex zwischen Owner und Pferdchen tabuisierte, gleichzeitig aber ein erotisiertes Machtspiel allererster Güte inszenierte. Es war kindisch, weil Avatars bis ins Unerträgliche verniedlicht wurden. Es war unanständig, weil Menschen dehumanisiert wurden. Es war, schlicht und ergreifend, zum Kotzen. Da hätte sie sich wohl lieber mit der Rolle einer Bordellmutter abfinden wollen als mit der Verlogenheit einer Stallbesitzerin. Was also war auf dem Grid noch zu tun? Die Idee von Claudia, auf dem Gelände von Brocéliande einen Nachtklub einzurichten, erschien ihr attraktiv, wenngleich mit der Corporate Identity einer Farm nicht gut vereinbar. Aber vielleicht konnte man sich so ein Stück weit wegbewegen vom Image eines Ponyplay – Grids. Einen Versuch war es jedenfalls wert.

Es schien, dass sich auch Yhis mit dem Status Quo einer gut laufenden Ponyfarm nicht abfinden wollte. Ihre Ideen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Pferdeausrüstung schienen langsam aber sicher zu versiegen. Für den Bau eines Nachtklubs war sie allerdings nur schwer zu begeistern. Statt dessen widmete sie sich dem Aufbau einer Zirkuswelt, die sie in einer verschwiegenen Inselecke vornahm. Ein wundersamer, mit Bondage – Elementen versehener Zirkus sollte es werden, der die Welt in Erstaunen versetzte. Margaux willigte ein: vielleicht würde das die Schaffenskraft der Künstlerin Yhis wieder auf Touren bringen. Sie selbst würde sich gemeinsam mit Claudia um den Nachtklub kümmern.

Kari erinnerte sich nicht mehr genau, was damals in weiterer Folge geschah. Ein Schleier des Vergessens schien über die Ereignisse gebreitet. Das verärgerte sie, weil sie wusste, wie sehr sie die Sache mit Broceliande emotional noch immer beschäftigte. Was hatte sie verdrängt, was war es eigentlich gewesen, was zum grossen Krach des Jahres 2008 geführt hatte? Also beschloss Kari, wieder an den Ort ihres grössten Erfolgs und ihrer grössten Niederlage zurückzukehren. Nach Jahren des Verdrängens hatte sie mit einem Male die alte Begeisterung für Broceliande wie eine Krankheit erfasst. Sie loggte sich ein in Second Life und suchte nach dem Ort Broceliande.