09 Intermezzo: Spurensuche

Kari ist beruhigt, als sie das Profil von Brocéliande findet, fast 15 Jahre nach dessen Gründung. Stolz prangt das Logo MB in der Vogelperspektive des Grid, schon beim blossen Ansehen ruft es die Befindlichkeit von früher auf den Plan: Stolz und Zufriedenheit. Die Besitzerin ist noch immer Claudia Svendsen, auch darüber ist Kari erleichtert: Claudia Svendsen hat die Insel bis heute bewahrt. Das 15 Jahre Besitz in Second Life, eine halbe Ewigkeit. Auch finanziell ist das eine grosse Belastung.

Kari teleportiert und erlebt an ihrem Ziel die erste Überraschung. Sie bleibt mehrere Meter über dem Landungspunkt in der Luft hängen und kann sich aus dieser Lage nicht mehr befreien. Erst mit einem kleinen Trick landet sie auf der nahen Sitzbank des Landungsareals. Aber ausser diesem technischen Defekt scheint noch alles zu sein wie damals. Der Landeplatz ist aus Holz, der mittig angelegte Hochstrahlbrunnen ergiesst seine Fontänen in vier Steinbassins. Dazwischen Holzbänke und eine Teleportiert-Station mit drei Destinationen: Club Siren’s Song, Brocéliande Stables und Ballon Ride. Kari kann nicht widerstehen und teleportiert sich zum Nachtklub, der sich damals tief unten im Meer befunden hat. Den Namen hatte sie inzwischen vergessen. An die Räumlichkeiten kann sie sich noch sehr gut erinnern: An den Zugang mit den stählernen Schleusen, den Barbereich mit einem riesigen Aquarium, in dem auch ein riesiger Hai schwamm, die 4 Separees, die für ein ungestörtes Zusammensein gedacht und thematisch ausgerichtet waren. Der Bau war ein gemeinsames Werk gewesen, Claudia hatte sich da sehr ins Zeug gelegt, und eine Unmenge von Ideen dafür eingebracht.

Als Kari am Eingangstor landete, versank sie sogleich in einer wüstenhaften Leere und Unordnung. Man konnte zwar deutlich sehen, dass hier so etwas wie ein Club gewesen war, allerdings waren fast alle Gebäudestrukturen entfernt worden, sodass nur mehr die nackten Felswände zu sehen waren. Alles Landmasse, die hauptsächlich aus Lücken bestand. Die Bar war fast restlos zerstört. Nur da und dort waren Reste zurückgelassen worden; Türen und Tapeten standen unmotiviert in der Baugrube herum, ebenso wie immer noch funktionierende Informationsständer, die etwa Notizkarten wie diese freigaben:

***CLUB SIRENE’S SONG: FRENCH ROOM*** Costs (special offer until May 31, 2007): Touch the door and pay LS 100.– per person for 30 minutes stay. Each person who uses the room has to pay separately. Intruders without ticket will be automatically ejected and banned. After 30 minutes the door will open automatically after a warning. Guests who wish to leave the room earlier, right click the exit button inside the room. They will be teleported to the entrance of the club. Equipment: SexGen bed Platinum v4.01 with 100 animations (categories: Fetish, BDSM, Girl/Girl, Threesome, Foursome, Cyber, Cuddles, Boy/Girl ).

Auch die Notizkarte eines anderen Separee konnte Kari noch finden. Es trug den Namen Back Alley und war mit ähnlichen Angaben versehen. Kari sah sich weiter um. Da hatte jemand alle Wände der Bar entfernt und so eine tiefe Baugrube entstehen lassen. Die Bar selbst war noch vorhanden, auch das Logo aus Neonlampen zeugte vom ehemaligen Charme des Ortes. Einige Leitern, die einst auf unterschiedliche Etagen geführt hatten, standen auch noch. Jetzt führten sie ins Leere. Kari war schockiert über den Grad an Zerstörung, der hier gewütet hatte. Wer hatte sich hier so nach Herzenslust ausgetobt? Warum war das Werk der Zerstörung nicht beendet worden und man hatte hier eine Ruine hinterlassen? Das konnte man doch auf einem Sim, das noch immer halbwegs gut besucht war, doch nicht tun? Kari erinnerte sich: Claudia war immer etwas nachlässig gewesen, eine Person, die sich immer sehr auf sich selbst konzentriert und wenig für ihre Umwelt übrig gehabt hatte. Aber diese Gebäuderuine derart schamlos stehen zu lassen, ging nun doch nicht. Schliesslich hatte man den Ort immer noch als Destination in der zentralen Teleportiert Station angeführt. Erschreckend, dieser Lost Place, aus dem sich Kari nach minutenlangem, entsetzten Herumwandern heraus teleportierte. Der Ort erinnerte sie zu sehr an Bilder vom Krieg zerstörter Häuser und deprimierte sie tief.

Kari war zunehmend irritiert, fand sie doch beim folgenden Herumstreifen auf der Insel weitere Zeichen von Vernachlässigung. Es kam ihr vor, als wäre sie auf einem Lost Place gelandet, in dem einzelne Teile zwar gut in Schuss waren und benutzt werden konnten, andere aber rücksichtslos dem Untergang preisgegeben waren. Der Rennplatz etwa war gut in Schuss. Dort traf sie auf eine Gruppe von Ponys mit ihrer Besitzerin, die sich offenbar zum Training zurechtmachten: gesprächig waren die allerdings nicht, offenbar ein Zug der Zeit. Kari ging vom Trainingsgelände zum See hinunter und fand dort die schöne Gartenlandschaft von damals vor: nichts hatte sich hier verändert, ausser dass die Gehwege im Mesh Bauweise ausgelegt worden waren.

Sogar die alte Haltestelle für den Pod gab es noch, den Margaux einst angelegt hatte, um den Besuchern eine Gelegenheit für einen Inselrundflug zu geben. Yhis hatte damals einen Heissluftballon bauen wollen, der einzigartig werden sollte. Weil aber die Künstlerin bereits in so vielen Projekten steckte, hatte Margaux, die nie etwas auf die lange Bank schieben wollte, vorgeschlagen den vom Market Place mitgelieferten Pod zu nutzen. Dieser stand noch immer auf einer Plattform, offenbar voll funktionsfähig. Auch die Fluganzeige funktionierte tadellos: immerhin hatte seit der Fertigstellung der Station im Sommer 2007 3327 Residents den Flug genommen. Das brachte Kari auf die Idee, in der Gruppe nachzusehen, die der Insel gewidmet war, und in die man eintreten musste, um die Pferdesportanlagen zu nutzen: auch dieses Zahlen sprachen davon, dass die Insel bis heute besucht wurde – nicht gerade die Zahlen der Frilly Filly Farm, aber immerhin weit über 300 Besucher. Die Insel wurde also offenbar noch immer besucht, war offensichtlich bloss gröblich vernachlässigt. Kari ertappte sich dabei, dass sie im Kopf einen vorsichtigen Renovierungsplan für Brocéliande entwarf: Fehler ausbessern, Irreführendes beseitigen, verwahrloste Gebäude revitalisieren, ein wenig abstauben und aufräumen, wieder Werbung. Den inneren Zusammenhang der Inselelemente logischer gestalten, wäre die oberste Prämisse. Der Charakter der Insel sollte erhalten bleiben. Man müsste mit Claudia sprechen, die sich dem Vorschlag mittelfristig sicherlich nicht entziehen würde. Natürlich wäre zu verschweigen, dass man die frühere Margaux Lapointe war. Vielleicht irgend etwas mit „alte Denkmäler auf Second Life“ vorbringen, nachdem man sich einen gewissen Grad an Vertrauen bei der Inselbesitzerin erschlichen hatte. Aber halt: Frau sollte sich lieber doch nicht gleich in der Vergangenheit festfahren. Lieber Distanz bewahren und die aktuellen Projekte von Kari zügig aber konzentriert weiterentwickeln. Vielleicht war es wirklich besser, mit dem alten Build abzuschliessen und sich auf künftige Projekte zu konzentrieren.

Schnell entschlossen und auch fluchtartig kletterte Kari also in den Pod und schloss mit ihren sentimentalen Vorstellungen ab. Sie würde sich nun aufs Fliegen konzentrieren.

Der Pod war ein typisches Produkt aus den Anfangszeiten von Second Life, eine Art halbe Eischale, die metallisch glänzte und mit zwei Pose Balls ausgestattet war. Erfreut stellte Kari Fest, dass das Modell noch immer auf dem Marktplatz existierte und der Builder Blaise Timtam offenbar noch immer tätig war. Langsam setzte sich der in Bewegung. Kari war nun voller Erwartung und hing schon bald anderen Gedanken nach. Mit einem Male begann der Ballon in Local Chat zu flüstern:

[08:27] Ballon: „Willkommen bei der Tour rund um Brocéliande. Bitte benütz deine Kamera, um den Flug in allen seinen Dimensionen geniessen zu können. Hier handelt es sich um einen Testflug. Das Vehikel, in dem du reist, wird schon bald durch einen wunderschönen Heissluftballon ersetzt werden.“

Langsam erhoben sie sich über die Insel. Sie konnte sich wieder an die Ansage des Ballons erinnern, die sie einst selbst geschrieben hatte. Jetzt bedauerte sie, das Versprechen vom Heissluftballon gegeben zu haben. 15 Jahre waren vergangen und es gab noch immer keinen. Yhis war damals zu sehr mit dem Bau ihres Zirkus beschäftigt gewesen und hatte dann in weiterer Folge auf das Versprechen vergessen, dass sie Margaux gegeben hatte. Und jetzt schien Margaux verschwunden zu sein. Ihr Profil hatte Kari zwar in der Viewer Suche gefunden, nichts aber schien darauf hinzudeuten, dass sie hier regelmässig vorbeischaute: da wären die Dinger sicher besser in Schuss geblieben: dafür war sie Perfektionistin genug. Und vielleicht gäbe es ihn dann doch, diesen Heissluftballon?

[08:28] Ballon: Brocéliande wurde 2007 von vier sehr bösen Mädchen gegründet: AHYM (Adriana, Hannah, Yhis und Margaux). Claudia ist später dazugekommen.

Ja, auch an diesen Satz konnte sich Kari fragmentarisch erinnern, mehr noch an den Stolz, mit den sie ihn niederschrieb und damit den Gründungsmythos anlegte. Das es aber 4 Personen gewesen sein sollten, daran konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Offenbar erinnerte sie sich an zwei der Gründungsmitglieder überhaupt nicht mehr. Wer um aller Welt war Adriana, wer war Hannah gewesen? Und warum das Akronym? Sie beschloss, später im Gruppenprofil nachzusehen. Plötzlich tauchte der name Adriana im Local Chat nochmals auf:

[08:28] Ballon: Unsere erste Station ist das Nest einer Elster. Adriana Akropolis lebt hier und wacht über die Insel.

Ja, genau! Nun begann sie sich zu erinnern. Eines Tages war Margaux von einem Ausflug auf ein Sim zurückgekehrt, in dem wunderbare Tier-Avatars verkauft wurden. Die Firma hiess Grendel’s Children, war 2006 gegründet worden und damals weithin bekannt. Staunend war Margaux durch die Lager der Kreativen geschlichen, um sich an diesem Reichtum an Einfallsreichtum und Können zu berauschen. Schon hatte sie sich überlegt, ab nun wieder ihren Avatar zu wechseln, um in die Rolle eines Tieres zu schlüpfen – verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dem Gefieder einer menschengrossen Elster konnte sie jedoch nicht widerstehen. Sie lud sich die Box vom Vendor und begab sich zur nächsten Sandbox. Dort reizte sie und legte Schritt für Schritt die vielen Attachments an, bis sie sich in dieses wunderschöne Rabenvieh verwandelt hatte. Mit dem Ergebnis ihrer Verwandlung war sie sehr zufrieden. Sie würde nun „heimfliegen“ nach Brocéliande und dort alle gerade Anwesenden mit ihrer Erscheinung überraschen. Adriana Akropolis war geboren. Sie würde über die Insel wachen, sie war der Spiritus Rector des Unternehmens. Ausgestattet mit dem mythologischen Hintergrund der Raben, im schwarz-weissen Gefieder der Elster krächzend über die Insel schweben und ein Auge auf das Treiben unter ihr werfen – das schien die Rolle zu sein, den ein Vogel namens Adriana Akropolis gut einnehmen könnte. Ein freundlicher, aber auch ein unheimlicher Wächter. Yhis war naturgemäss verwirrt über so viel archaischer Besessenheit von Margaux, die nun auch den Luftraum zu beherrschen schien. Claudia hatte dazu keine spezielle Meinung, wie sie immer schon wenig Meinung zu haben schien und sich lieber den Verhältnissen anzupassen pflegte, als sich zu exponieren und diese zu gestalten.

Hier, im Pod erinnerte sich Kari wieder an das alles. Allerdings fehlte vom Nest der Adriana jede Spur. Wieder liess die Erinnerung Kari in Stich. Hatte sie je dieses Nest je gebaut? War dieses Nest nachträglich von der neuen Besitzerin entfernt worden? Und wie hatte es ausgesehen?

Aber nochmals: Hannah? Wer war Hannah? Irgendetwas klingelte im Hirn von Kari als sie so friedlich dasass in ihrem Pod und im Luftraum über der Insel dahinglitt. Im Profil der Brocéliande Gruppe fand sie keinen Hannah – Avatar Hannah bei deren Nachnamen etwas in ihr geklingelt hatte, ausser vielleicht eine Hannah Ah, die vom Alter her passen konnte. Die hatte aber keinerlei Texte oder Bilder auf ihrem Profil hinterlassen, denen Kari hätte nachgehen konnte. Hannah, in welchen Winkel des Gedächtnisses war sie entglitten? Aber die Reise in die Vergangenheit ging weiter und die Erinnerungsmuster waren von der Bahn des Pods vorgegeben.

[08:28] Ballon: Auf der linken Seite des Berges siehst du nun den Zirkus von Yhis Khorana. Das ist ein Zirkus in dem Ponys eine neue Art von Bewegung voller Eleganz erproben können. Möchtest du ihn besuchen? Dann erheb dich und lasse dich zu ihm hinunterfallen.

Der Pod neigte sich nach links, der Pod neigte sich nach rechts, so als ob er deren Passagiere über dem Zirkus gerne hätte loswerden wollen. Das hatte Margaux offenbar als Hommage an das Künstlergenie von Yhis Khorana so programmiert. Denn der Zirkus war wirklich eine Pracht, gerade auch für die Verhältnisse vor der Einführung von Mesh. Sogar eine Gruppe war dem Zirkus auf Brocéliande gewidmet, allerdings mit mässigem Zuspruch. Nur etwa neun Mitglieder hatten sich als Elevinnen des Zirkus registrieren lassen. Was sie aber genau dort machten, entzog sich Kari Kenntnis. So schön die Bauten auch waren: das Zirkuszelt, die Zigeunerwagen davor, die Tierkäfige, das Hochseil zwischen den beiden Podesten – ein Erfolg war er nicht, konnte es auch nicht werden: zu wenig attraktiv war offenbar das damit verbundene Abenteuer. Er war ein blosses Zitat aus einer einer anderen Welt, in der der Zirkus immer noch auf einen kontinuierlichen Zustrom von Besuchern zählen kann. Hier war es nur ein Zitat, mehr leider nicht. Wenn der Bau des Zirkusareals aber eines bewirkt hatte, dann war es die Aufmerksamkeit von Yhis von dem eigentlichen Sinn und Unsinn von Brocéliande abzulenken. Es war, wenn es Kari richtig bedachte, der Anfang vom Ende ihrer einst so guten Zusammenarbeit. Yhis war für Tage, ja sogar für Wochen nicht mehr ansprechbar, ständig auf ihrer Sandbox wo sie ihre Build torstrukturierte und dann auf die Insel brachte, um ihnen den letzten Schliff zu geben. Und sie hatte ihn geschafft: ein wunderschönes Areal war entstanden, das jedoch kaum jemand zu nutzen schien.

[08:29] Ballon: Wer nähern uns jetzt dem Ponyplay – Gelände. Du kannst die Ställe, die Slalom Anlage und den Sammelplatz für Besucher sehen, weiters ein geskriptetes Sprunggelände und einen Reitparkour.

Jetzt waren sie beim Herzstück der Insel angelangt. Als es Kari überflog, standen sogar eine Gruppe von Ponys standen in der Nähe der Reitbahn, offenbar kurz vor oder nach dem Training. Kari lächelte. Alles war mit einem Male so, wie es früher gewesen war: friedlich, voll Optimismus, unbeschädigt. Ein belebtes Gelände, wie schön! Gemeinsam hatten Yhis und Margaux an dieser ausgedehnten Anlage gearbeitet und Claudia hatte hier die Ponys ihres Stalles trainiert. Auch Rennen hatte es zahlreiche gegeben, die Besucher hatten stets die Zeitabnahme am Parcours bewundert. Mit dem freien Auge konnte sie Hindernisse erkennen, die sie selbst gebaut hatte und jene, welche Yhis beigesteuert und verbessert hatte. Kari wandte sich ab, dem Spieler hinter ihrem Avatar hatte so etwas wie die Rührung gepackt und voller Sentimentalität liess er die Kamera über das Gelände schweifen. Sentimentalität, schon wieder, aber die Reise erlaubte kein allzu langes Verweilen und damit auch kein Vergehen in Selbstmitleid.

[08:29] Ballon: Wir bewegen uns jetzt auf die Westküste zu. Zu deiner Rechten befindet sich der Einkaufsbereich mit dem Ponygirl – Laden.

Der Laden war nicht mehr wieder zu erkennen. Es war jetzt zweistöckig mit einer Art offenem Dach, im Obergeschoss die Waren von Yhis, im Untergeschoss, nur schwer frei zugänglich die Waren anderer Pony-Tack Erzeuger. So kannte man direkt in das Reich von Yhis Khorana einfliegen. Sich nach den Waren im Untergeschoss zu sehen, darauf vergass man wahrscheinlich. Kari fand eine derartige Verkaufstaktik, und um eine solche musste es sich handeln, Brocéliande nicht würdig. Sie waren immer davon ausgegangen die beste Qualität zu einem sehr guten Preis zu verkaufen. Das war die gemeinsame Linie gewesen. Warum sich diese so drastisch geändert hatte, warum man inzwischen so unsicher geworden war, darüber konnte Kari nur spekulieren

[08:30] Ballon: An der Rückseite des Gebäudes befindet sich die Terrasse mit dem Haupteingang zum Unterwasserklub mit dem Namen „Siren’s Song“.

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[08:30] Ballon: An dieser Stelle herzlichen Dank an alle, die geholfen haben, diese Insel zu entwickeln, insbesondere den Kunden und Händlern von Maison Brocéliande.

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[08:30] Ballon: Wir erreichen nun das Unterseeboot, eine Fetisch-Überraschung. Und am Horizont seht ihr den privaten Bereich der Besitzerinnen.

Ach ja, das Submarine. Ein riesiges Teil, das hier an der Küstenlinie angedockt war und das ihren Reiz durch die interessante Textur und die altmodische Bauweise ausstrahlte. Es war leer, offenbar dafür gedacht, ein geheimes Laster von Margaux zu beherbergen. Die Räume dementsprechend auszustatten, dazu war sie aber nie gekommen. Es fiel Kari nun plötzlich wie Schuppen von den Augen: die plötzliche Flucht von Margaux, weg von dieser Insel, die eigentlich ihr Lebenswerk hätte sein sollen, schlug sich auch im Zustand der Bauten nieder. Da waren der halbfertige Pod, die irreführenden Teleport – Ziele, geräumte oder abgerissene Gebäude, ein noch immer leerstehendes Submarine. Diese Ruinen der eigenen Geschichte konnte man sich eigentlich nur auf mehrere Weisen erklären. Entweder die Insel war einfach von Claudia emotional in Stich gelassen worden, wogegen die hohen monatlichen Kosten, die immerhin über einen Zeitraum zu zahlen waren, und die Lange Mietzeit sprachen. Für etwas, was einen nicht interessierte, zahlte man doch nicht jahrelang eine hohe Miete. Oder es war einfach nicht gelungen, all jene Gegenstände, die aus der Bautätigkeit von Margaux stammten, einfach von der Insel zu entfernen: wogegen aber die Tatsache sprach, dass Margaux die Insel ordnungsgemäss übergeben hatte mit allen Rechten und Berechtigungen. Drittens: man hatte immer darauf gewartet, dass Margaux nach dem Eklat zwischen ihnen eines Tages zurückkehren würde. Aber auch dafür sprach nicht das Geringste. So blieben die Gründe für den gegenwärtigen Zustand der Insel ein Rätsel. Sie hätte mit Claudia sprechen können, wenn die überhaupt jemals online ging, aber das ging nicht. Auch Yhis war eine Möglichkeit. Das wollte Kari aber auch nicht.

[08:30] Ballon: Wir begeben uns nun auf eine Höhe 660 Metern. Das ist ein langer Flug. Bitte zieh dir warme Kleider an und berühre auf keinen Fall den Knopf zum Aufstehen.

So ein betuliches Gerede, schimpfte Kari, wenn sie ihren Text an dieser Stelle genauer las. Sowohl die Anspielung an die Kälte als auch jene an die Höhe des Raumes waren Reminiszenzen an das First Life, die hier auf dem Sim gar keinen Sinn machten. Auch waren sie viel zu fürsorglich, ja zutraulich, besonders für die heutigen Zeiten, in denen die Avatars nicht einmal zu grüssten, wenn man ihnen begegnete. Im Gegenteil: man musste sogar ausweichen, um nicht überrannt zu werden.

Ansonsten gestaltet sich der Aufstieg auf 600 Metern unerträglich langsam, die Möglichkeit zu einem Dialog mit den Reisenden war nicht genutzt worden. Im Gegenteil, wie wenigen Kommentare waren voll von Redundanz:

[08:31] Wir erreichen nun bald die erste Station unseres Aufstiegs. Wir bewegen uns hinauf zu einer Kunstgalerie hoch im Himmel.

[08:33] Ballon: Wir nähern uns nun der Galerie von Chantal Munro. Chantal würde sich glücklich schätzen, wenn du ihre Kunst besichtigen würdest.

Das war nun etwas, was Kari wirklich vergessen hatte: die Galerie der Chantal Munro. Ihr war sie eines Tages auf der Insel begegnet und hatte sie als eine kunstverständigen und ehrgeizigen Avatar erlebt. Trotzdem passierte etwas, was für Second Life so typisch war und ist: man verständigte sich nach mehreren Treffen rasch auf ein Vorhaben, für das es keine Grundlage gab, als eine plötzliche Idee, vielleicht auch nur ein unbedacht vorgebrachtes Wort: Galerie! Chantal, die selbst zu diesem Zeitpunkt kein Land besass, war begeistert von Margaux Angebot, ihr eine Galerie hoch oben in den Lüften anzubieten. Die Miete dafür sollte ihr für ein paar Wochen erlassen werden. Sie schmiedeten Pläne. Eine offene Skybox wurde es, auf zwei Stockwerken, die die Kunstwerke der so begeisterten Chantal aufnehmen würde. Der luftige Standort hätte wunderbar zu der Leichtigkeit der Gemälde gepasst, von denen Chantal eines hergezeigt hatte. Das war wirklich ein schönes Tableau und es verführte Margaux zu der ihr eigenen Begeisterung: in Vorlage zu treten, wo das doch der Andere hätte tun sollen. So war das Build schliesslich fertig, aber die Kunstwerke blieben aus. Schliesslich blieb auch Chantal Munro aus, liess sich nicht mehr blicken und reagierte auf die sorgenvollen Nachrichten Margaux nicht mehr. So stellte das Build, das Kari vom Pod aus langsam an sich vorüberziehen sah, ebenfalls einer dieser Lost Places dar, welche unbeschadet aber traurig leer die letzten 15 Jahre überdauert hatten. Lost Places einer Demiurgin, die immer weiter und weiter zog war auf der Suche nach dem nächsten Anfang und dem nächsten Abenteuer. Wieviel Lebenszeit steckte da drin, wieviel Ideenreichtum, wieviel Arbeitsmühe!

[08:33] Ballon: Wir sind nun angekommen. Du kannst dich jetzt erheben, um sanft auf der Plattform zu landen.

Das tat Kari auch, verfehlte prompt die Plattform und landete unschön an den Hängen der Hügelkette im Nordwesten der Insel. Erst beim dritten Mal gelang ihr die Landung auf der Galerie. Lange werkelte sie herum, denn die einzige Aufstiegsmöglichkeit stellte der Pod dar: Claudia hatte das Fliegen auf der Insel unterbunden. Wenn das den anderen Gästen auch so ging, erst eine Vielzahl von versuchen zu benötigen, um auf der Galerie landen zu können, dann musste man sich über deren Enttäuschung nicht wundern. Denn zu sehen gab es auf der Skybox kein einziges Gemälde. Das Build war im Grunde sehr einfach konstruiert, ein architektonisches Durchschnittsprodukt aus übereinander gestapelten Quadern, in deren Mitte symmetrisch angelegte Stiegen ins Untergeschoss führten.. Viel Platz also, um an den halbhohen Wänden Kunstobjekte anzubringen und viel Licht, um das Beste aus ihnen zu machen. Man hätte die Galerie nur füllen müssen!

Kari wurde beim Besichtigen des Ortes bewusst, dass sie schon damals für ein grosses Projekt geprobt hatte, dass sie nach ihrem Weggang aus Brocéliande beschäftig hatte: ihre grosse Gemäldegalerie, den Nachbau des neurenovierten Zwanzigerhauses in Wien.

[08:33] Ballon: Bald wird an dieser Stelle hoch über der Gallerie eine Station für Fallschirmspringen eröffnet. (…) Nun bewegen wir uns wieder langsam hinunter zur Insel.

Wieder so ein Projekt von Margaux in dem Bemühen, die Attraktivität der Insel auch abseits des Pony – Fetisch zu erhöhen. Margaux hatte sich auch als Herrin über Brocéliande die Gewohnheit beibehalten, Second Life auf der Suche nach Neuem und Aufregendem abzuklappern. Da war ihr das aufregende Abenteuer des Springens aus grosser Höhe (Skydiving) aufgefallen, das auf einigen Grundstücken von Second Life betrieben werden konnte. Ausgerüstet mit einem HUD, einer Vorrichtung, die man sich an eine Ecke des Viewer „kleben“ konnte und die einem dann allerlei Messzahlen seines Sprunges anzeigte, liess man sich per Teleporter auf eine Plattform in luftige Höhen bringen und sprang dann, entsprechend mit Anzug und Fallschirm ausgerüstet, in die Tiefe. War schon das Fliegen selbst eine Attraktion, die man gerne und oft im Alltag übte, so versetzte einen der Sprung aus grösser Höhe einen zusätzlichen Kick. Man sprang buchstäblich ins Nichts, versuchte zu lenken, sich zu überschlagen, oder in horizontale Richtung zu schweben, vorbei an Sandboxen und Luftfahrzeugen, die es damals in grosser Menge im Luftraum des Grids gab. Und schliesslich tauchte unter einem das kleine Quadrat von 256 mal 256 Metern auf, oder eben eine grössere Fläche aus grünem Material, wenn es sich dabei um eine zusammenhängende Landmasse handelte. Was für ein Spass für die noch Flug ungewohnten Avatars.

Genau so etwas wollte Margaux auch auf ihrer Insel haben, eine Attraktion auf der Höhe der Zeit. Was Yhis mit ihrem Zirkus und Claudia mit ihrem Nachtklub versuchten, das hatte auch Margaux mit ihrer Sprungplattform vor: allerdings ohne sie in die virtuelle Realität umzusetzen. Kari lächelte: schön, dass sie daran erinnert worden war. Ob es diese Aktivität heute auf Second Life überhaupt noch gab?

[08:35] Ballon flüstert: Der zentrale Landepunkt mit dem Hannah Shenley Brunnen und einer Teleport – Station. Wieder ein Blick auf den See von Brocéliande und die zweithöchste Erhebung, den Svendsen Hügel, benannt nach unserem Partner Claudia.

Wieder eine Hannah, dachte Kari, und womöglich dieselbe von Vorhin, jene, die angeblich zu den Mitbegründerinnen von Brocéliande gehört hatte. Ihr war nun sogar ein Brunnen gewidmet worden. Daran konnte sich Kari überhaupt nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war der Brunnen erst nach ihrem Weggang so benannt worden. Kari stöberte, neugierig geworden, in den entsprechenden Seiten des SL Wikis. 2006 hatte es eine Hanna Shelley auf Second Life gegeben, wie Kari einem alten Forum entnahm. In den Postings ging es allerdings um die schlechte Qualität der Audio Feeds auf Second Life. Das war jedoch alles, was sie über Hannah Shenley hatte herausfinden können.

[08:36] Ballon: Liebe Gäste! Wir beenden nun unsere Tour. Das Team von Broceliande hofft, dass sie diese Reise genossen haben Danke für deinen Besuch. Du wirst nun sanft aus dem Ballon entlassen. Bitte nutze unsere Teleporter Stationen, um unsere Insel genauer zu erkunden.

Die Reise über das Inselreich ihrer Vergangenheit war nun vorüber. Natürlich hätte Kari auch weiterhin in den Wunden ihrer Vergangenheit hatte graben können. Und noch so viel hätte es zu entdecken gegeben, etwa die vielen Builds, die offenbar nach ihrem Weggang gebaut wurden. Aber was hätte sie damit gewonnen, was für die Zukunft lernen sollen. Die Menschen ändern sich wohl nie und nur die Avatars tun so, als könnten sie in neuer Gestalt auch völlig anderen Charakterzügen zum Leben verhelfen. Doch dem Spieler entkommen die Margauxs, Ojals und Karis nie.