11 Tränen

Die Welt zerbricht für Margaux: sie hat nun nichts mehr. Die engsten Freunde hat sie verlassen, Brocéliande hat sie preisgegeben, ihre Verantwortung für den Grid hat sie zurückgelegt. Sie ist ein Avatar wie viele: ohne Bedeutung, ohne Ziel, nur dem Zeitvertreib verpflichtet. Sie versucht es mit einem neuen Gesicht. Es wirkt noch ernster, noch bösartiger, noch dominanter. Unter dem linken Auge glitzert eine grosse Träne. Damit zeigt sie ihre Trauer über den selbstverschuldeten Verlust. Sie ändert ihr Profil: vermerkt stolz, dass sie die Gründerin von Brocéliande sei, diese nun anderen Besitzern gehöre. Das neue Profil mit neuem Bild ist auch eines der letzten Spuren, die heute in Second Life auffindbar sind. Finden kann man es nur, wenn man auf die Dinge klickt, die sie einst geschaffen hat und die heute noch auf dem Grid gerezzed sind. Dem Avatar-Verzeichnis von Second Life ist sie abhanden gekommen, aus welchen Gründen auch immer. Selbst wenn sie wollte, könnte Kari nicht mehr zu ihrem alten Avatar zurückfinden. Man hat sie entfernt, das geht ganz leicht, und sie weiss nicht weshalb. Die Vergangenheit ging ihr verloren, nur ein Denkmal hat sie gesetzt: Brocéliande. Darauf ist sie bis heute ungemein stolz, selbst wenn es mit einem längst vergangenen Baustil altmodisch wirkt und selbst dann noch, wenn sie feststellen musste, wie sehr Claudia das gemeinsame Projekt heruntergewirtschaftet hat.

An Weniges, nur Bruchstückhaftes kann Kari sich erinnern, was diese Post-Margaux Margaux betrifft. Dem Pony Play hat diese nun völlig entsagt. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich einer anderen Farm anzuschliessen, um dann vielleicht bei einem Wettbewerb ihren alten Partnerinnen wieder zu begegnen. Pet Play hat sie immer ein wenig verachtet. Mit ihm liess sich ihrer Meinung nichts Zukunftsträchtiges aufbauen. Von den vielen Ponys und Puppies und dem kindischen Trainieren anderer unterwürfiger Avatars hatte sie endgültig genug. Doch welche Richtung sollte sie einschlagen?

So lungerte sie auf den Grids herum, auf der Suche nach einer neuen, überraschenden Welt. Furries fand sie infantil und konnte sie nicht leiden. Snuff stiess sie entschieden ab, musste sie sich doch immer die Spieler hinter den Opfern wie den Tätern dieses nun wirklich destruktiven Zeitvertreibs vorstellen. Blieb noch ABDL, dessen Machtkomponente sie mochte, bis sie auch dieser Fetisch zu langweilen begann. Eine Zeitlang überlegte Margaux, ein Bordell zu führen. Sie hatte beobachtet, wie jene Clubs boomten, in denen die Frauen zusammenfanden, in den Räumen herumstanden, sich in ihren Hüften wiegten und Partner für ihre versteckten Leidenschaften suchten. Liess sich mit solchen anrüchigen Veranstaltungsorten tatsächlich etwas Aufregendes, Neuartiges machen? Vielleicht wenn man es mit dem Real Life verknüpfte? Mit Unbehagen erinnerte sich Margaux an die tristen Poseball-Konstruktionen, in die sich Avatars einspannten, um nach unerotischer Kopulation sich wortlos ins Real Life verabschiedeten.

Da erinnert sie sich eines Tages an die Galerie von Chantal Munro. Wie wäre es, eine dieser grossartigen Gallerien nachzubauen, die die reale Welt so spannend machten. Der Spieler selbst befand sich nämlich in einer Lebensphase, die ihn in Paris vermehrt Kunst geniessen liess. Es führte ihn in Galerien und Museen, zu Artefakten von Kunst und Geschichte. In Wien wird gerade das „Zwanzgerhaus“ renoviert, überall sieht er die Illustrationen, die das neue Gebäude zeigt. Er ist inzwischen im Jahr 2011 angekommen.

Jetzt ist es klar für Margaux: Das Museum soll als grosser Glasquader in einem Netz von roten Stahlträgern neu erstrahlen. Also baubar, auch hier in Second Life, auch ohne dieses lästige Mesh einsetzen zu müssen. Viel Platz für die Kunst, die Margaux aufkaufen und ausstellen will. Ein Projekt für Erwachsene, für das man sich nicht zu genieren gebraucht. Wer wollte schon ernsthaft einem Playground Eigentümer des Pony Fetish die Hand drücken? Kunst war genügend ausgeflippt und besass genügend Ernsthaftigkeit wie gesellschaftliche Anerkennung, um als Neuorientierung für die neue Orientierung für Margaux zu funktionieren.

Sie besorgte sich die Illustrationen und Baupläne des Wiener Museums, soweit dies die Verfügbarkeit im Internet zuliess. Sie betrachtete sie eingehend und wusste, dass sie das Museum würde zufriedenstellend bauen können, auch ohne den Einsatz einer begnadeten Bildnerin wie Yhis Khorana. Margaux sah sich die Bilder genauer an. Geometrischer Grundriss, drei Stockwerke, ein zentraler Bereich, der im Obergeschoss von einer Galerie umrahmt war. Rundherum ein Park. Klarheit und viel Licht, so wie es sich Margaux bereits für ihre Chantal – Munro – Galerie gewünscht hatte. Einziger Zierrat boten die runden Stahlverkleidungen der Fensterfronten, die der Aussenfassade des Museums eine gewisse Ornamentik verliehen. Doch das war mit den Grundelementen der Prim – Bauweise leicht machbar. Die nicht überraschende Frage war wohl, ob die Anzahl der zu veranschlagenden Prims nicht zu hoch sein würde. Obschon Margaux eine gewisse Fertigkeit in Blender erreicht hatte, traute sie sich noch nicht zu, mit Mesh zu bauen. Diese neue Bauweise, die später Second Life aber auch Opensim wie eine Pandemie überziehen sollte, begann sich ab 2011 in Second Life durchzusetzen. Sie ersparte den Buildern im Vergleich zur Prim – Bauweise eine beträchtliche Menge an Prims, die die Landparzellen und die Geldbörsen ihrer Besitzer wieder aufatmen liessen. Doch Margaux wollte sich dem neuen Trend nicht anschliessen, zunächst aus einem einzigen Grund. Die spärliche Zeit, die ihr nun in-world zur Verfügung stand, wollte sie nicht mit dem Erlernen eines komplexen Computerprogramms verbringen. Deren Produkte man erst nach Fertigstellung off grid hochladen konnte. Im übrigen hasste sie es, wenn beim Betreten eines Grids die Mesh Builds langsam luden, um andrerseits ins Nichts zu diffundieren, wenn man sich genügend weit von ihnen entfernte. Das war nicht seriös, nicht stabil, nicht handfest genug. Da blieb sie lieber bei der altmodischen Primbauweise. Die beherrschte sie, da musste sie sich nicht der langen Tortur des Lernens unterziehen.

Das virtuelle Zwanzigerhaus war das Meisterstück der späten Margaux Lapointe. Endlose Nächte baute sie daran, duplizierte und fügte Bauelemente aneinander, probierte Grössenverhältnisse, verkleinerte meist und platzierte eilig gekaufte Kunstwerke, um ihre Wirkung Im Gebäude zu jeder Tages- und Nachtzeit zu überprüfen. Lichtquellen wurden wichtig, an der Tönung der Weissfarben an den Galeriewänden schraubte sie, Gehen und Fliegen im Raum wurde erprobt, sowie ein Kaufsystem entwickelt, für die man die ausgestellte Kunst auch erwerben konnte. Ihr Museum des 21. Jahrhunderts war zur Gänze als Skybox gebaut, die finanzielle Belastung für eine Insel erschien ihr viel zu hoch.

Besucher würden in der Eingangshalle im Untergeschoss landen, vor einem Ticketshop mit Orientierungspfeilern und inmitten spannender Installationen. Fliegen war erlaubt, auch um die ausgestellte Kunst aus allen, bisher unbekannten Perspektiven zu betrachten. Künstlerbiographien und ein Werkverzeichnis wurden wie im realen Leben angebracht und konnten sofort als Notizkarten heruntergeladen werde, Es war ein Ort für die bedächtigen und gebildeten Kunstliebhaber, nicht für die Mainstream – Residents. Lange werkelte Margaux deshalb am Licht, denn Licht war alles: ein mattes versöhnliches, aber niemals einschläferndes Licht, das die Farben und Formen zum Leuchten brachten.

In den Baupausen, wenn sich Margaux vom vielen, möglichst präzisen Aneinanderreihen und ineinander Verschachteln der Bauelemente erholen musste und die Augen des Spielers vor Erschöpfung und Anstrengung zu brennen begannen, ging sie die Galerien besuchen und entdeckte IHRE Kunst auf Second Life. Das war kein einfaches Unterfangen.

In der typischen Begrifflichkeit von Second Life und des banalen Alltagslebens bedeutete Kunst stets alles, was von Personen in Text gefasst, auf Leinwand gebracht oder in Skulpties gefasst werden konnte und dem Geschmack durchschnittlicher User entsprach: Kunsthandwerk allerhöchstens, Behübschung blieb es meist. Von künstlerischer Ästhetik fehlte oft jede Spur. Das war, so empfand Margaux, durchwegs grauenhaft und mehr als naiv: einfach einfältiges Unterfangen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, Kunst aus der realen Welt zu kopieren und auszustellen. Das war aus Sicht von Margaux ebenfalls unerträglich, weil hier offenbar mit den von Künstlern verwendeten Medien Schindluder getrieben wurde. Einen Saal mit Kopien von Chagall, Monet oder Schiele zuzupflastern und für die Kopien der Kopien auch noch Geld zu verlangen, erschien ihr plump, wenn nicht gänzlich redundant. Aber welche Qualitätskriterien wollte sie für ihre Galerie des 21. Jahrhunderts anwenden? Margaux entschied sich nach einiger Überlegung zu radikaler Subjektivität. Das was ihr gefiel und ihrem ästhetischen Masstab von Kunst (und nicht von Kunsthandwerk oder Behübschung) entsprach, fand Aufnahme in ihr Museum, das ein Museum der Zukunft werden sollte. Und so begann sie Kunst zu sammeln, zu kaufen und auszustellen. Der Aufbau der Sammlung ging Hand in Hand mit dem Baufortschritt. Das war gut und wichtig, mussten doch Raum und Objekt perfekt zum einander passen. Im Untergeschoss befanden sich die Skulpturen und Installationen, im Obergeschoss meist die Gemälde. Für die Objekte mit Übergrösse baute sie an einem Dachgeschoss, reales Wiener Vorbild hin oder her.

Gerade auch zu dieser Zeit hatten selbsternannte und tatsächliche KünstlerInnen die virtuellen Welten von Second Life entdeckt, die Preise ihrer Objekte gestalteten sich für die Käufer zu einem Wechselbad der Gefühle. So wie einst die vielen real existierenden Unternehmen zog nun auch Museen und junge Künstlerinnen auf den Grid, um dort ihr Glück zu suchen. Die Preise waren zunächst willkürlich und über den Daumen gepeilt, weniger realistisch als intuitiv. Es gab schlicht und ergreifend keinen Kunstmarkt auf Second Life. Die Wahl Margaux’s fiel auf die ihrer Meinung nach jungen, unbekannten und aufstrebenden Künstler, die erschwinglich waren. Ohnehin sanken die Preise bald ins Bodenlose, als auch die Kunstschaffenden erkannten, dass man höchstens ein wenig bekannter werden konnte mit einem Auftritt in einer virtuellen Welt, niemals aber nennenswertes Geld verdienen würde. Second Life gehörte auch im Bereich der Kunst schon bald den Grossen, insbesondere als Linden Lab begann, sich selbst mit Kunst auf dem Grid zu beschäftigen. Ein Ornament mehr am Portal von Second Life war dies, mehr nicht.

Doch da war dann etwas, was Margaux bestärkte, wieder einmal den richtigen Riecher zu haben. Einige Künstler:innen begannen die virtuellen Welten als eigenes Medium zu begreifen und einfach Kunst des Real Life auf den Grid zu exportieren. Ganze Regionen waren plötzlich temporären Kunstprojekten gewidmet. Linden Lab hatte rasch erkannt, wie man Second Life in Richtung künstlerischer Ästhetisierung nutzen und erweitern konnte. Sie stellten bekannten und weniger bekannten Künstlerinnen Inseln zur Verfügung, die für eine beschränkte Zeit in einen Kunstraum umgewandelt werden konnten.

Das brachte wiederum Margaux in eine verzwickte Lage. Mit dem ohnehin Gebräuchlichen wollte sie sich ohnehin nie abgeben. Den Virtuellen Raum hingegen als künstlerisch nutzbares Medium zu begreifen, kam ihr sehr entgegen. Aber sie steckte gerade in der Abschlussphase ihres Museums des 21. Jahrhunderts. Sich jetzt völlig umzuorientieren war kaum machbar. Die Preise für Regionen, die als Spielwiese für künstlerische Betätigung dienen konnten, waren einfach zu hoch. Es hätte mindestens einer Handvoll an Regionen bedurft, um einen nachhaltigen Eindruck zu machen und bei den Lindens mitzuspielen. Trotzdem reizte sie die neue Herausforderung. Sie lernte eine Künstlerin kennen, die auf Secondlife ausstellte und auch in den neu entstehenden virtuellen Welten präsent war. Und das war die entscheidende Neuentdeckung von Margaux: die Welt von Open Sim. Ja, es gab diese andere Welt, die Welt des Open Sim. Und das war der Ort für unabhängige Kunst.