Die Geographie der Demiurgen

Ein Projekt im Rahmen des Nanowrimo 2023

Strahlend wie Ikarus hatte Margaux ihren Flug zur Sonne begonnen, und wie er hatte sie ihre Flügel nur unzulänglich angeklebt. So verwundert ihr Sturz nicht. Heute, im Rückblick schien es ihr noch immer, als hätte sie damals ein Drama griechischen Ausmasses inszeniert, das sie bis heute nicht völlig verstand. Vorhang auf.

Noch immer befindet sich Kari auf Brocéliande. Nachdem sie den Inselrundflug beendet hatte, beschloss sie noch ein wenig auf der Insel herumzustreifen. Es gab ja immer noch etwas zu entdecken: der Hügel etwa, auf dem einst das das Nest von Adriana Akropolis gewesen war. Auf dem kleinen Plateau war ein Grabstein errichtet worden, daneben eine Sitzbank, das kleine Areal war mit einem Eisenzaun umgeben. Sowohl die Grabstelle als auch die Stufen, die zu ihr hinaufführten, waren bemerkenswert: sie waren aus Mesh, also anders gebaut als der Rest der im Old Style gebauten Insel. Zudem waren sie von einem Avatar gerezzed worden, der offenbar Baurechte auf der Insel besass. Der Name des Builder war Standing Heron. Wer aber war hier begraben worden und an wen wollte Standing Heron erinnern? Der Grabstein selbst besass keine Inschrift Noch ein weiteres Build von Standing Heron weiteren Hinweis auf diesen Avatar fand Kari. In jenem Gebäude, das den Verkaufsladen beherbergte, war am Dachboden unter offenem Dach ein kleiner Wohnraum inszeniert worden: zwei Fauteuils, ein Couchtisch, eine Staffelei. Auf der Staffelei das Bild einer Frau: war das Yhis? Auf dem Tisch eine noch immer rauchende Tasse Kaffee, so als hätte man erst kürzlich hier gesessen. Eine eindrucksvolle Inszenierung: Hier sass man und wartete auf eine Frau, offenbar aus jene Frau auf dem Bild.

Wer war diese Standing Heron? Offenbar jemand, der nach dem Weggang von Margaux aufgetaucht war. Jemand, der genug Gewicht in Brocéliande besessen hatte, um hier bauen zu dürfen. Auch jemand, der Yhis Khorana auf das Schmerzlichste vermisste. Auf den Picks des Profils war zu lesen: „Brocéliande. My home. Still waiting in hope for Yhis to return.“ Das war unter einem Frauenbildnis geschrieben, das dieselbe Person wie das Foto im vorher erwähnten Wohnzimmer zeigte. Das war, auch nach mehrmaligen Hinsehen, tatsächlich Yhis Khorana. Die Frisur, das Gesicht, die schlanke Figur und die perfekt sitzende Kleidung waren nicht zu verkennen.

Also war auch Yhis verschwunden und hatte all ihre Besitztümer hinterlassen. Die Recherche im Netz ergab, dass sie zwar 2010 und 2009 auf Second Life Fashion Zines erwähnt worden war, was aber nicht bedeuten musste, dass sie zu dieser Zeit noch auf Second Life präsent war. Ein weiterer Eintrag aus dem Jahr 2007 bestätigte ihre Beteiligung am Bau einer Hürdenrennbahn auf der Frilly Filly Farm – das war das letzte Zeichen für eine Präsenz von Yhis in Second Life.

Da wartete also ein Avatar voller Trauer auf die Rückkehr von Yhis. Die beiden identischen Bilder des weiblichen Avatars waren sicherlich jene der Geliebten. Dann war auch Yhis Khorana bis heute von Grid verschwunden. Ein üblicher, aber für die Hinterlassenen ebenso schmerzhafter Tod im virtuellen Raum. Wie kann man Abschied nehmen, wie kann man in Ehren trauern bei solch volatilen Verhältnissen? Eines Tages einfach vom Grid zu verschwinden, vielleicht auch ohne Vorwarnung: wer möchte das mit seinem aktuellen Partner erleben? Standing Heron war eine Trauernde und sie war zu bedauern.

Kari ist mit einem Mal tief betroffen: wie oft hat sie das nicht selbst getan, einfach für längere Zeit aus dem Spiel zu verschwinden, ohne den engsten Kreis vorgewarnt zu haben. Einfach für Tage, Monate, ja Jahre nicht am Grid gewesen zu sein, war durchaus gang und Gebe. Vielleicht um eine Auszeit zu nehmen, vielleicht um die Dinge des realen Lebens besser erledigen zu können, vielleicht einfach so, weil Second Life keinen Spass mehr machte. Dann tauchte man mit neuem als Avatar wieder auf, ohne zunächst noch Freunde zu haben, aber um neue Freunde zu gewinnen. Die Vernachlässigung der alten Bekannten hätte man kaum rechtfertigen können, denn die Wahrheit war wohl: sie waren einem egal. Egal geworden. Egal was. Man war eben so und so war es passiert. Man weinte dem früheren Leben kein Auge nach. Immer vorwärts geblickt, zum neuen Abenteuer.

Aktuell fällt Kari ein sehr liebenswerter Avatar namens Mathilde ein, den sie aktuell seit einigen Wochen nicht gesehen hatte, ohne ihr über die Gründe der Abwesenheit Bescheid zu geben. Einige Male hat sich Kari in Second Life eingeloggt und dabei gesehen, dass Mathilde online war. Sie fühlte sich zu beschäftigt, um auf ihre Anfragen zu reagieren, auch würde ihr ein langes Gespräch zu anstrengend sein. Die Selbstberuhigung, dass dies alles nur ein Spiel sei, ist allerdings brüchig. Kari weiss es besser, trotzdem tut sie es immer wieder, kalt und unverbindlich sein.

Kari schüttelt die unangenehmen Gedanken ab, nur um sich mit einem weiteren zu beschäftigen: ihren gewaltsamen, ja gewalttätigen Abschied von Brocéliande, damals 2007.

Die Situation auf Brocéliande hatte sich zugespitzt. Yhis war immer seltener auf der gemeinsamen Farm aufgetaucht und sich auch sonst immer weniger für das Wohlergehen ihres gemeinsamen Projekts interessiert. Da war ihre Mitarbeit auf der Frilly Filly Farm, die sie in Anspruch nahm, da war ihr Zirkus, dem sie so viel Zeit schenkte. Die Einnahmen durch die Verkäufe sanken, es hätte dringend neuer, zündender Idee seitens Yhis gebraucht, um wieder die Aufmerksamkeit auf ihre Produktpalette zu lenken. Brocéliande lebte schliesslich davon.Doch Yhis fühlte sich (zu Recht) frei wie ein Schmetterling. Sie hatte ja gegenüber Brocéliande keinerlei finanzielle Verpflichtungen übernommen. Diese trug zur Gänze Margaux. Auch Claudia partizipierte gerne und war leider, produktionstechnisch gesehen, eine Niete. Die Last eines stagnierenden Betriebes blieb allein an Margaux hängen. Das machte sie zunehmend nervöser, zunehmend aggressiver. Zudem hatten Yhis und Claudia zu einer intimen Beziehung gefunden, die ihre Anwesenheit am Grid immer mehr ausfüllte. Kari weiss nicht mehr, ob das kleine Verlies beim Leuchtturm nicht schon zu ihrer gemeinsamen Zeit entstanden war. Es sprach mit seinen geschmacklosen Pose Balls eine deutliche Sprache. Es war ein Ärgernis und Fanal für die verschwendete Online Zeit der beiden.

Hatte Margaux die Bindung zwischen beiden zunächst nur mit einem Achselzucken abgetan, begann nun die Eifersucht überhand zu nehmen. Diese Eifersucht war kaum sexueller Natur, sie war vielmehr Wut darüber, dass mit wertvoller Online Zeit so verschwenderisch umgegangen wurde, dass die Belange von Brocéliande sich hinten anstellen mussten, dass für das gemeinsame Projekt keine Zeit blieb. Hie und da tänzelte Yhis auf der Insel herum, kaum ansprechbar, auf der Suche nach ihrer Spielgefährtin, die sich ganz submassives Weibchen rar gemacht hatte. In latent aggressiver Weise mäkelte Yhis an den Builds von Margaux herum und verbesserte sie ohne ihre Eigentümerin zu fragen. Das brachte Margaux zur Raserei, weil sie wusste, dass die Korrektur tatsächlich notwendig gewesen war. Sie war die schlechtere Bildnerin, aber sie tat wenigstens etwas zum Wohl der Gemeinschaft. Die Nervosität auf Brocéliande stieg, die Besucherzahlen sanken. Claudia tauchte oft nicht mehr regelmässig zu ihren Trainerstunden auf, blieb unentschuldigt fern. Die Ponys maulten und sahen sich langsam nach anderen Ställen um. Margaux behalf sich einstweilen mit Diensten anderer Avatars, was nur mangelhaft funktionierte. Margaux Aggressionspegel stieg ins Unermessliche. Mit einem Male schien es, als hätte man nur mehr Scherereien, Sorgen und Ärger mit seinem Stück Land. Keiner übernahm Verantwortung, alles blieb an Margaux hängen.

Es kam so, wie es kommen musste. Der Spieler am Keyboard wollte nicht mehr. Er fühlte, wie er schnaubend vor Wut vor sich hin schimpfte, wenn er den hochgeschützten Paaren von damals in-world begegnete. Aussprachen halfen kaum etwas. Man begann bloss vor der Wut von Margaux Angst zu haben, und mied sie deshalb. Man erschien tagelang nicht mehr, oft nur an den Tagen wo die Gewinnbeteiligung von Margaux ausgegeben wurde. Sie hatte darauf bestanden, diese in Präsenz der Partner durchzuführen: ein letztes Aufbäumen bei steigender Verzweiflung.

Der Spieler hingegen versuchte sein Leid mit einigen Flaschen guten französischen Rotwein zu lindern: regelmässig, wie er erschrocken, aber auch belustigt feststellte. Das verringerte die Hemmschwelle, die Auseinandersetzungen zwischen den Dreien wurden heftiger. Mit einer eigenartigen Mischung aus Masochismus, Aggression und Verzweiflung geisselte der Spieler die Verfehlungen seiner Mitspieler, und damit wohl auch sich selbst.

Es passierte an diesem Morgen am Wochenende, wo Margaux eigentlich vorgehabt hatte, an einigen Verbesserungen im Nachtklub zu arbeiten. Als sie auf dem Grid landete sah sie dass Yhis und Claudia in trauter Eintracht miteinander plauderten. Als Margaux die beiden ansprach, antworteten sie nicht. Margaux versuchte es ein zweites Mal. Ein knappes „Hallo“ kam von Claudia. Schweigen von Yhis. War sie afk? Aber nein, sie bewegte sich doch auf und ab, in ihren Stiefeln, heftig die Reitgerte schwingend und sich dabei nach vor beugend, als würde sie durch die Wucht des Schlages auf Claudias Po mitgerissen werden. Margaux ging weiter, flog dann in die Höhe und liess, zu ihrer eigenen Überraschung, eine jener Sulphur – Bomben auf das Paar hinunter fallen, die sie noch aus ihrer Zeit als Grieferin immer griffbereit mit sich führte. Der Platz versank in Flammen und Rauch. Und weil es so schön war, entschloss sich der schon morgens alkoholisierte Spieler das ganze Arsenal an Bomben loszuwerden. Ein grandioses Flammenmeer zuckte über den Bildschirm, ein Meer an Licht explodierte. Das war kongenialer Ausdruck für die Wut und Spannung, die seit Wochen über Brocéliande geschwebt hatte. Brocéliande brannte und Margaux fiel, mit ihr die Partner.

Seinem offenbar sadomasochistisch veranlagten Charakter entsprechend, legte der Spieler noch ein Scherflein böser Überraschung nach. Als sich der Rauch und die Flammen verzogen hatten und auch ihre beiden Kontrahenten wieder auf die Insel zurückgekehrt hatten, eröffnete Margaux den nun sehr aufmerksam und betroffen Lauschenden die schlechte Nachricht. Die Insel stünde ab jetzt zum Verkauf bereit, wenn sie es wünschten, würde sie sie ihnen aber zu einem Vorzugspreis überlassen. Allerdings hätten sie sich binnen einer Stunde zu entscheiden, denn dann würde sie das Land für die beiden sperren.

Das Herz des Spielers pochte. Hatte das Margaux wirklich getan? Hatte sie das Ultimatum gestellt, das keiner Seite mehr einen Ausweg offen liess? Gleichzeitig war er nicht mehr bereit einzulenken, zu sehr hatte auch er unter den versteckten Aggression und der offen zur Schau gestellten Interesselosigkeit von Yhis und Claudia gelitten. Ausserdem ritt ihn die Aggression. Die war zwar immer ein schlechter Berater, wie er wusste, verschaffte aber zumindest für wenige Augenblicke ungeheure Befriedigung. Betrunken war er ohnehin, was die eigene Hemmschwelle bedeutend sinken liess.

Margaux erreichten zwei Nachrichten. Von Yhis kam ein knappes, aber drohendes: „Never do that!“, von Claudia ein eher naives und ängstliches: „Warum machst du das denn nur?“ Beide Antworten brachte Margaux aber nur noch weiter in Rage. Vielleicht hätte sie ein „We are sorry“ beruhigt, aber auch das erschien Kari im Rückblick mehr als unwahrscheinlich. Kari antwortete mit einem schlichten „Fuck both of you“ in Local Chat und loggte sich aus. Die Würfel waren gefallen, die Pattsituation beendet und das Projekt lag in Scherben. Margaux hatte genauso gehandelt, wie es einer Drama Queen würdig gewesen war. Sie loggte sich befriedigt und erleichtert aus. Endlich frei!

Nach zwanzig Minuten erhielt sie via Email die Nachricht, dass Claudia mit dem vorgeschlagenen Preis für die Insel einverstanden war. Sie vereinbarten einen Termin um die Geldgeschäfte zu erledigen und die Inselberechtigungen abzuwickeln. Margaux bestand auf dem selben Tag. Damit war das Abenteuer Brocéliande erledigt.

Die Welt zerbricht für Margaux: sie hat nun nichts mehr. Die engsten Freunde hat sie verlassen, Brocéliande hat sie preisgegeben, ihre Verantwortung für den Grid hat sie zurückgelegt. Sie ist ein Avatar wie viele: ohne Bedeutung, ohne Ziel, nur dem Zeitvertreib verpflichtet. Sie versucht es mit einem neuen Gesicht. Es wirkt noch ernster, noch bösartiger, noch dominanter. Unter dem linken Auge glitzert eine grosse Träne. Damit zeigt sie ihre Trauer über den selbstverschuldeten Verlust. Sie ändert ihr Profil: vermerkt stolz, dass sie die Gründerin von Brocéliande sei, diese nun anderen Besitzern gehöre. Das neue Profil mit neuem Bild ist auch eines der letzten Spuren, die heute in Second Life auffindbar sind. Finden kann man es nur, wenn man auf die Dinge klickt, die sie einst geschaffen hat und die heute noch auf dem Grid gerezzed sind. Dem Avatar-Verzeichnis von Second Life ist sie abhanden gekommen, aus welchen Gründen auch immer. Selbst wenn sie wollte, könnte Kari nicht mehr zu ihrem alten Avatar zurückfinden. Man hat sie entfernt, das geht ganz leicht, und sie weiss nicht weshalb. Die Vergangenheit ging ihr verloren, nur ein Denkmal hat sie gesetzt: Brocéliande. Darauf ist sie bis heute ungemein stolz, selbst wenn es mit einem längst vergangenen Baustil altmodisch wirkt und selbst dann noch, wenn sie feststellen musste, wie sehr Claudia das gemeinsame Projekt heruntergewirtschaftet hat.

An Weniges, nur Bruchstückhaftes kann Kari sich erinnern, was diese Post-Margaux Margaux betrifft. Dem Pony Play hat diese nun völlig entsagt. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich einer anderen Farm anzuschliessen, um dann vielleicht bei einem Wettbewerb ihren alten Partnerinnen wieder zu begegnen. Pet Play hat sie immer ein wenig verachtet. Mit ihm liess sich ihrer Meinung nichts Zukunftsträchtiges aufbauen. Von den vielen Ponys und Puppies und dem kindischen Trainieren anderer unterwürfiger Avatars hatte sie endgültig genug. Doch welche Richtung sollte sie einschlagen?

So lungerte sie auf den Grids herum, auf der Suche nach einer neuen, überraschenden Welt. Furries fand sie infantil und konnte sie nicht leiden. Snuff stiess sie entschieden ab, musste sie sich doch immer die Spieler hinter den Opfern wie den Tätern dieses nun wirklich destruktiven Zeitvertreibs vorstellen. Blieb noch ABDL, dessen Machtkomponente sie mochte, bis sie auch dieser Fetisch zu langweilen begann. Eine Zeitlang überlegte Margaux, ein Bordell zu führen. Sie hatte beobachtet, wie jene Clubs boomten, in denen die Frauen zusammenfanden, in den Räumen herumstanden, sich in ihren Hüften wiegten und Partner für ihre versteckten Leidenschaften suchten. Liess sich mit solchen anrüchigen Veranstaltungsorten tatsächlich etwas Aufregendes, Neuartiges machen? Vielleicht wenn man es mit dem Real Life verknüpfte? Mit Unbehagen erinnerte sich Margaux an die tristen Poseball-Konstruktionen, in die sich Avatars einspannten, um nach unerotischer Kopulation sich wortlos ins Real Life verabschiedeten.

Da erinnert sie sich eines Tages an die Galerie von Chantal Munro. Wie wäre es, eine dieser grossartigen Gallerien nachzubauen, die die reale Welt so spannend machten. Der Spieler selbst befand sich nämlich in einer Lebensphase, die ihn in Paris vermehrt Kunst geniessen liess. Es führte ihn in Galerien und Museen, zu Artefakten von Kunst und Geschichte. In Wien wird gerade das „Zwanzgerhaus“ renoviert, überall sieht er die Illustrationen, die das neue Gebäude zeigt. Er ist inzwischen im Jahr 2011 angekommen.

Jetzt ist es klar für Margaux: Das Museum soll als grosser Glasquader in einem Netz von roten Stahlträgern neu erstrahlen. Also baubar, auch hier in Second Life, auch ohne dieses lästige Mesh einsetzen zu müssen. Viel Platz für die Kunst, die Margaux aufkaufen und ausstellen will. Ein Projekt für Erwachsene, für das man sich nicht zu genieren gebraucht. Wer wollte schon ernsthaft einem Playground Eigentümer des Pony Fetish die Hand drücken? Kunst war genügend ausgeflippt und besass genügend Ernsthaftigkeit wie gesellschaftliche Anerkennung, um als Neuorientierung für die neue Orientierung für Margaux zu funktionieren.

Sie besorgte sich die Illustrationen und Baupläne des Wiener Museums, soweit dies die Verfügbarkeit im Internet zuliess. Sie betrachtete sie eingehend und wusste, dass sie das Museum würde zufriedenstellend bauen können, auch ohne den Einsatz einer begnadeten Bildnerin wie Yhis Khorana. Margaux sah sich die Bilder genauer an. Geometrischer Grundriss, drei Stockwerke, ein zentraler Bereich, der im Obergeschoss von einer Galerie umrahmt war. Rundherum ein Park. Klarheit und viel Licht, so wie es sich Margaux bereits für ihre Chantal – Munro – Galerie gewünscht hatte. Einziger Zierrat boten die runden Stahlverkleidungen der Fensterfronten, die der Aussenfassade des Museums eine gewisse Ornamentik verliehen. Doch das war mit den Grundelementen der Prim – Bauweise leicht machbar. Die nicht überraschende Frage war wohl, ob die Anzahl der zu veranschlagenden Prims nicht zu hoch sein würde. Obschon Margaux eine gewisse Fertigkeit in Blender erreicht hatte, traute sie sich noch nicht zu, mit Mesh zu bauen. Diese neue Bauweise, die später Second Life aber auch Opensim wie eine Pandemie überziehen sollte, begann sich ab 2011 in Second Life durchzusetzen. Sie ersparte den Buildern im Vergleich zur Prim – Bauweise eine beträchtliche Menge an Prims, die die Landparzellen und die Geldbörsen ihrer Besitzer wieder aufatmen liessen. Doch Margaux wollte sich dem neuen Trend nicht anschliessen, zunächst aus einem einzigen Grund. Die spärliche Zeit, die ihr nun in-world zur Verfügung stand, wollte sie nicht mit dem Erlernen eines komplexen Computerprogramms verbringen. Deren Produkte man erst nach Fertigstellung off grid hochladen konnte. Im übrigen hasste sie es, wenn beim Betreten eines Grids die Mesh Builds langsam luden, um andrerseits ins Nichts zu diffundieren, wenn man sich genügend weit von ihnen entfernte. Das war nicht seriös, nicht stabil, nicht handfest genug. Da blieb sie lieber bei der altmodischen Primbauweise. Die beherrschte sie, da musste sie sich nicht der langen Tortur des Lernens unterziehen.

Das virtuelle Zwanzigerhaus war das Meisterstück der späten Margaux Lapointe. Endlose Nächte baute sie daran, duplizierte und fügte Bauelemente aneinander, probierte Grössenverhältnisse, verkleinerte meist und platzierte eilig gekaufte Kunstwerke, um ihre Wirkung Im Gebäude zu jeder Tages- und Nachtzeit zu überprüfen. Lichtquellen wurden wichtig, an der Tönung der Weissfarben an den Galeriewänden schraubte sie, Gehen und Fliegen im Raum wurde erprobt, sowie ein Kaufsystem entwickelt, für die man die ausgestellte Kunst auch erwerben konnte. Ihr Museum des 21. Jahrhunderts war zur Gänze als Skybox gebaut, die finanzielle Belastung für eine Insel erschien ihr viel zu hoch.

Besucher würden in der Eingangshalle im Untergeschoss landen, vor einem Ticketshop mit Orientierungspfeilern und inmitten spannender Installationen. Fliegen war erlaubt, auch um die ausgestellte Kunst aus allen, bisher unbekannten Perspektiven zu betrachten. Künstlerbiographien und ein Werkverzeichnis wurden wie im realen Leben angebracht und konnten sofort als Notizkarten heruntergeladen werde, Es war ein Ort für die bedächtigen und gebildeten Kunstliebhaber, nicht für die Mainstream – Residents. Lange werkelte Margaux deshalb am Licht, denn Licht war alles: ein mattes versöhnliches, aber niemals einschläferndes Licht, das die Farben und Formen zum Leuchten brachten.

In den Baupausen, wenn sich Margaux vom vielen, möglichst präzisen Aneinanderreihen und ineinander Verschachteln der Bauelemente erholen musste und die Augen des Spielers vor Erschöpfung und Anstrengung zu brennen begannen, ging sie die Galerien besuchen und entdeckte IHRE Kunst auf Second Life. Das war kein einfaches Unterfangen.

In der typischen Begrifflichkeit von Second Life und des banalen Alltagslebens bedeutete Kunst stets alles, was von Personen in Text gefasst, auf Leinwand gebracht oder in Skulpties gefasst werden konnte und dem Geschmack durchschnittlicher User entsprach: Kunsthandwerk allerhöchstens, Behübschung blieb es meist. Von künstlerischer Ästhetik fehlte oft jede Spur. Das war, so empfand Margaux, durchwegs grauenhaft und mehr als naiv: einfach einfältiges Unterfangen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, Kunst aus der realen Welt zu kopieren und auszustellen. Das war aus Sicht von Margaux ebenfalls unerträglich, weil hier offenbar mit den von Künstlern verwendeten Medien Schindluder getrieben wurde. Einen Saal mit Kopien von Chagall, Monet oder Schiele zuzupflastern und für die Kopien der Kopien auch noch Geld zu verlangen, erschien ihr plump, wenn nicht gänzlich redundant. Aber welche Qualitätskriterien wollte sie für ihre Galerie des 21. Jahrhunderts anwenden? Margaux entschied sich nach einiger Überlegung zu radikaler Subjektivität. Das was ihr gefiel und ihrem ästhetischen Masstab von Kunst (und nicht von Kunsthandwerk oder Behübschung) entsprach, fand Aufnahme in ihr Museum, das ein Museum der Zukunft werden sollte. Und so begann sie Kunst zu sammeln, zu kaufen und auszustellen. Der Aufbau der Sammlung ging Hand in Hand mit dem Baufortschritt. Das war gut und wichtig, mussten doch Raum und Objekt perfekt zum einander passen. Im Untergeschoss befanden sich die Skulpturen und Installationen, im Obergeschoss meist die Gemälde. Für die Objekte mit Übergrösse baute sie an einem Dachgeschoss, reales Wiener Vorbild hin oder her.

Gerade auch zu dieser Zeit hatten selbsternannte und tatsächliche KünstlerInnen die virtuellen Welten von Second Life entdeckt, die Preise ihrer Objekte gestalteten sich für die Käufer zu einem Wechselbad der Gefühle. So wie einst die vielen real existierenden Unternehmen zog nun auch Museen und junge Künstlerinnen auf den Grid, um dort ihr Glück zu suchen. Die Preise waren zunächst willkürlich und über den Daumen gepeilt, weniger realistisch als intuitiv. Es gab schlicht und ergreifend keinen Kunstmarkt auf Second Life. Die Wahl Margaux’s fiel auf die ihrer Meinung nach jungen, unbekannten und aufstrebenden Künstler, die erschwinglich waren. Ohnehin sanken die Preise bald ins Bodenlose, als auch die Kunstschaffenden erkannten, dass man höchstens ein wenig bekannter werden konnte mit einem Auftritt in einer virtuellen Welt, niemals aber nennenswertes Geld verdienen würde. Second Life gehörte auch im Bereich der Kunst schon bald den Grossen, insbesondere als Linden Lab begann, sich selbst mit Kunst auf dem Grid zu beschäftigen. Ein Ornament mehr am Portal von Second Life war dies, mehr nicht.

Doch da war dann etwas, was Margaux bestärkte, wieder einmal den richtigen Riecher zu haben. Einige Künstler:innen begannen die virtuellen Welten als eigenes Medium zu begreifen und einfach Kunst des Real Life auf den Grid zu exportieren. Ganze Regionen waren plötzlich temporären Kunstprojekten gewidmet. Linden Lab hatte rasch erkannt, wie man Second Life in Richtung künstlerischer Ästhetisierung nutzen und erweitern konnte. Sie stellten bekannten und weniger bekannten Künstlerinnen Inseln zur Verfügung, die für eine beschränkte Zeit in einen Kunstraum umgewandelt werden konnten.

Das brachte wiederum Margaux in eine verzwickte Lage. Mit dem ohnehin Gebräuchlichen wollte sie sich ohnehin nie abgeben. Den Virtuellen Raum hingegen als künstlerisch nutzbares Medium zu begreifen, kam ihr sehr entgegen. Aber sie steckte gerade in der Abschlussphase ihres Museums des 21. Jahrhunderts. Sich jetzt völlig umzuorientieren war kaum machbar. Die Preise für Regionen, die als Spielwiese für künstlerische Betätigung dienen konnten, waren einfach zu hoch. Es hätte mindestens einer Handvoll an Regionen bedurft, um einen nachhaltigen Eindruck zu machen und bei den Lindens mitzuspielen. Trotzdem reizte sie die neue Herausforderung. Sie lernte eine Künstlerin kennen, die auf Secondlife ausstellte und auch in den neu entstehenden virtuellen Welten präsent war. Und das war die entscheidende Neuentdeckung von Margaux: die Welt von Open Sim. Ja, es gab diese andere Welt, die Welt des Open Sim. Und das war der Ort für unabhängige Kunst.