10 Ikarus fällt
Strahlend wie Ikarus hatte Margaux ihren Flug zur Sonne begonnen, und wie er hatte sie ihre Flügel nur unzulänglich angeklebt. So verwundert ihr Sturz nicht. Heute, im Rückblick schien es ihr noch immer, als hätte sie damals ein Drama griechischen Ausmasses inszeniert, das sie bis heute nicht völlig verstand. Vorhang auf.
Noch immer befindet sich Kari auf Brocéliande. Nachdem sie den Inselrundflug beendet hatte, beschloss sie noch ein wenig auf der Insel herumzustreifen. Es gab ja immer noch etwas zu entdecken: der Hügel etwa, auf dem einst das das Nest von Adriana Akropolis gewesen war. Auf dem kleinen Plateau war ein Grabstein errichtet worden, daneben eine Sitzbank, das kleine Areal war mit einem Eisenzaun umgeben. Sowohl die Grabstelle als auch die Stufen, die zu ihr hinaufführten, waren bemerkenswert: sie waren aus Mesh, also anders gebaut als der Rest der im Old Style gebauten Insel. Zudem waren sie von einem Avatar gerezzed worden, der offenbar Baurechte auf der Insel besass. Der Name des Builder war Standing Heron. Wer aber war hier begraben worden und an wen wollte Standing Heron erinnern? Der Grabstein selbst besass keine Inschrift Noch ein weiteres Build von Standing Heron weiteren Hinweis auf diesen Avatar fand Kari. In jenem Gebäude, das den Verkaufsladen beherbergte, war am Dachboden unter offenem Dach ein kleiner Wohnraum inszeniert worden: zwei Fauteuils, ein Couchtisch, eine Staffelei. Auf der Staffelei das Bild einer Frau: war das Yhis? Auf dem Tisch eine noch immer rauchende Tasse Kaffee, so als hätte man erst kürzlich hier gesessen. Eine eindrucksvolle Inszenierung: Hier sass man und wartete auf eine Frau, offenbar aus jene Frau auf dem Bild.
Wer war diese Standing Heron? Offenbar jemand, der nach dem Weggang von Margaux aufgetaucht war. Jemand, der genug Gewicht in Brocéliande besessen hatte, um hier bauen zu dürfen. Auch jemand, der Yhis Khorana auf das Schmerzlichste vermisste. Auf den Picks des Profils war zu lesen: „Brocéliande. My home. Still waiting in hope for Yhis to return.“ Das war unter einem Frauenbildnis geschrieben, das dieselbe Person wie das Foto im vorher erwähnten Wohnzimmer zeigte. Das war, auch nach mehrmaligen Hinsehen, tatsächlich Yhis Khorana. Die Frisur, das Gesicht, die schlanke Figur und die perfekt sitzende Kleidung waren nicht zu verkennen.
Also war auch Yhis verschwunden und hatte all ihre Besitztümer hinterlassen. Die Recherche im Netz ergab, dass sie zwar 2010 und 2009 auf Second Life Fashion Zines erwähnt worden war, was aber nicht bedeuten musste, dass sie zu dieser Zeit noch auf Second Life präsent war. Ein weiterer Eintrag aus dem Jahr 2007 bestätigte ihre Beteiligung am Bau einer Hürdenrennbahn auf der Frilly Filly Farm – das war das letzte Zeichen für eine Präsenz von Yhis in Second Life.
Da wartete also ein Avatar voller Trauer auf die Rückkehr von Yhis. Die beiden identischen Bilder des weiblichen Avatars waren sicherlich jene der Geliebten. Dann war auch Yhis Khorana bis heute von Grid verschwunden. Ein üblicher, aber für die Hinterlassenen ebenso schmerzhafter Tod im virtuellen Raum. Wie kann man Abschied nehmen, wie kann man in Ehren trauern bei solch volatilen Verhältnissen? Eines Tages einfach vom Grid zu verschwinden, vielleicht auch ohne Vorwarnung: wer möchte das mit seinem aktuellen Partner erleben? Standing Heron war eine Trauernde und sie war zu bedauern.
Kari ist mit einem Mal tief betroffen: wie oft hat sie das nicht selbst getan, einfach für längere Zeit aus dem Spiel zu verschwinden, ohne den engsten Kreis vorgewarnt zu haben. Einfach für Tage, Monate, ja Jahre nicht am Grid gewesen zu sein, war durchaus gang und Gebe. Vielleicht um eine Auszeit zu nehmen, vielleicht um die Dinge des realen Lebens besser erledigen zu können, vielleicht einfach so, weil Second Life keinen Spass mehr machte. Dann tauchte man mit neuem als Avatar wieder auf, ohne zunächst noch Freunde zu haben, aber um neue Freunde zu gewinnen. Die Vernachlässigung der alten Bekannten hätte man kaum rechtfertigen können, denn die Wahrheit war wohl: sie waren einem egal. Egal geworden. Egal was. Man war eben so und so war es passiert. Man weinte dem früheren Leben kein Auge nach. Immer vorwärts geblickt, zum neuen Abenteuer.
Aktuell fällt Kari ein sehr liebenswerter Avatar namens Mathilde ein, den sie aktuell seit einigen Wochen nicht gesehen hatte, ohne ihr über die Gründe der Abwesenheit Bescheid zu geben. Einige Male hat sich Kari in Second Life eingeloggt und dabei gesehen, dass Mathilde online war. Sie fühlte sich zu beschäftigt, um auf ihre Anfragen zu reagieren, auch würde ihr ein langes Gespräch zu anstrengend sein. Die Selbstberuhigung, dass dies alles nur ein Spiel sei, ist allerdings brüchig. Kari weiss es besser, trotzdem tut sie es immer wieder, kalt und unverbindlich sein.
Kari schüttelt die unangenehmen Gedanken ab, nur um sich mit einem weiteren zu beschäftigen: ihren gewaltsamen, ja gewalttätigen Abschied von Brocéliande, damals 2007.
Die Situation auf Brocéliande hatte sich zugespitzt. Yhis war immer seltener auf der gemeinsamen Farm aufgetaucht und sich auch sonst immer weniger für das Wohlergehen ihres gemeinsamen Projekts interessiert. Da war ihre Mitarbeit auf der Frilly Filly Farm, die sie in Anspruch nahm, da war ihr Zirkus, dem sie so viel Zeit schenkte. Die Einnahmen durch die Verkäufe sanken, es hätte dringend neuer, zündender Idee seitens Yhis gebraucht, um wieder die Aufmerksamkeit auf ihre Produktpalette zu lenken. Brocéliande lebte schliesslich davon.Doch Yhis fühlte sich (zu Recht) frei wie ein Schmetterling. Sie hatte ja gegenüber Brocéliande keinerlei finanzielle Verpflichtungen übernommen. Diese trug zur Gänze Margaux. Auch Claudia partizipierte gerne und war leider, produktionstechnisch gesehen, eine Niete. Die Last eines stagnierenden Betriebes blieb allein an Margaux hängen. Das machte sie zunehmend nervöser, zunehmend aggressiver. Zudem hatten Yhis und Claudia zu einer intimen Beziehung gefunden, die ihre Anwesenheit am Grid immer mehr ausfüllte. Kari weiss nicht mehr, ob das kleine Verlies beim Leuchtturm nicht schon zu ihrer gemeinsamen Zeit entstanden war. Es sprach mit seinen geschmacklosen Pose Balls eine deutliche Sprache. Es war ein Ärgernis und Fanal für die verschwendete Online Zeit der beiden.
Hatte Margaux die Bindung zwischen beiden zunächst nur mit einem Achselzucken abgetan, begann nun die Eifersucht überhand zu nehmen. Diese Eifersucht war kaum sexueller Natur, sie war vielmehr Wut darüber, dass mit wertvoller Online Zeit so verschwenderisch umgegangen wurde, dass die Belange von Brocéliande sich hinten anstellen mussten, dass für das gemeinsame Projekt keine Zeit blieb. Hie und da tänzelte Yhis auf der Insel herum, kaum ansprechbar, auf der Suche nach ihrer Spielgefährtin, die sich ganz submassives Weibchen rar gemacht hatte. In latent aggressiver Weise mäkelte Yhis an den Builds von Margaux herum und verbesserte sie ohne ihre Eigentümerin zu fragen. Das brachte Margaux zur Raserei, weil sie wusste, dass die Korrektur tatsächlich notwendig gewesen war. Sie war die schlechtere Bildnerin, aber sie tat wenigstens etwas zum Wohl der Gemeinschaft. Die Nervosität auf Brocéliande stieg, die Besucherzahlen sanken. Claudia tauchte oft nicht mehr regelmässig zu ihren Trainerstunden auf, blieb unentschuldigt fern. Die Ponys maulten und sahen sich langsam nach anderen Ställen um. Margaux behalf sich einstweilen mit Diensten anderer Avatars, was nur mangelhaft funktionierte. Margaux Aggressionspegel stieg ins Unermessliche. Mit einem Male schien es, als hätte man nur mehr Scherereien, Sorgen und Ärger mit seinem Stück Land. Keiner übernahm Verantwortung, alles blieb an Margaux hängen.
Es kam so, wie es kommen musste. Der Spieler am Keyboard wollte nicht mehr. Er fühlte, wie er schnaubend vor Wut vor sich hin schimpfte, wenn er den hochgeschützten Paaren von damals in-world begegnete. Aussprachen halfen kaum etwas. Man begann bloss vor der Wut von Margaux Angst zu haben, und mied sie deshalb. Man erschien tagelang nicht mehr, oft nur an den Tagen wo die Gewinnbeteiligung von Margaux ausgegeben wurde. Sie hatte darauf bestanden, diese in Präsenz der Partner durchzuführen: ein letztes Aufbäumen bei steigender Verzweiflung.
Der Spieler hingegen versuchte sein Leid mit einigen Flaschen guten französischen Rotwein zu lindern: regelmässig, wie er erschrocken, aber auch belustigt feststellte. Das verringerte die Hemmschwelle, die Auseinandersetzungen zwischen den Dreien wurden heftiger. Mit einer eigenartigen Mischung aus Masochismus, Aggression und Verzweiflung geisselte der Spieler die Verfehlungen seiner Mitspieler, und damit wohl auch sich selbst.
Es passierte an diesem Morgen am Wochenende, wo Margaux eigentlich vorgehabt hatte, an einigen Verbesserungen im Nachtklub zu arbeiten. Als sie auf dem Grid landete sah sie dass Yhis und Claudia in trauter Eintracht miteinander plauderten. Als Margaux die beiden ansprach, antworteten sie nicht. Margaux versuchte es ein zweites Mal. Ein knappes „Hallo“ kam von Claudia. Schweigen von Yhis. War sie afk? Aber nein, sie bewegte sich doch auf und ab, in ihren Stiefeln, heftig die Reitgerte schwingend und sich dabei nach vor beugend, als würde sie durch die Wucht des Schlages auf Claudias Po mitgerissen werden. Margaux ging weiter, flog dann in die Höhe und liess, zu ihrer eigenen Überraschung, eine jener Sulphur – Bomben auf das Paar hinunter fallen, die sie noch aus ihrer Zeit als Grieferin immer griffbereit mit sich führte. Der Platz versank in Flammen und Rauch. Und weil es so schön war, entschloss sich der schon morgens alkoholisierte Spieler das ganze Arsenal an Bomben loszuwerden. Ein grandioses Flammenmeer zuckte über den Bildschirm, ein Meer an Licht explodierte. Das war kongenialer Ausdruck für die Wut und Spannung, die seit Wochen über Brocéliande geschwebt hatte. Brocéliande brannte und Margaux fiel, mit ihr die Partner.
Seinem offenbar sadomasochistisch veranlagten Charakter entsprechend, legte der Spieler noch ein Scherflein böser Überraschung nach. Als sich der Rauch und die Flammen verzogen hatten und auch ihre beiden Kontrahenten wieder auf die Insel zurückgekehrt hatten, eröffnete Margaux den nun sehr aufmerksam und betroffen Lauschenden die schlechte Nachricht. Die Insel stünde ab jetzt zum Verkauf bereit, wenn sie es wünschten, würde sie sie ihnen aber zu einem Vorzugspreis überlassen. Allerdings hätten sie sich binnen einer Stunde zu entscheiden, denn dann würde sie das Land für die beiden sperren.
Das Herz des Spielers pochte. Hatte das Margaux wirklich getan? Hatte sie das Ultimatum gestellt, das keiner Seite mehr einen Ausweg offen liess? Gleichzeitig war er nicht mehr bereit einzulenken, zu sehr hatte auch er unter den versteckten Aggression und der offen zur Schau gestellten Interesselosigkeit von Yhis und Claudia gelitten. Ausserdem ritt ihn die Aggression. Die war zwar immer ein schlechter Berater, wie er wusste, verschaffte aber zumindest für wenige Augenblicke ungeheure Befriedigung. Betrunken war er ohnehin, was die eigene Hemmschwelle bedeutend sinken liess.
Margaux erreichten zwei Nachrichten. Von Yhis kam ein knappes, aber drohendes: „Never do that!“, von Claudia ein eher naives und ängstliches: „Warum machst du das denn nur?“ Beide Antworten brachte Margaux aber nur noch weiter in Rage. Vielleicht hätte sie ein „We are sorry“ beruhigt, aber auch das erschien Kari im Rückblick mehr als unwahrscheinlich. Kari antwortete mit einem schlichten „Fuck both of you“ in Local Chat und loggte sich aus. Die Würfel waren gefallen, die Pattsituation beendet und das Projekt lag in Scherben. Margaux hatte genauso gehandelt, wie es einer Drama Queen würdig gewesen war. Sie loggte sich befriedigt und erleichtert aus. Endlich frei!
Nach zwanzig Minuten erhielt sie via Email die Nachricht, dass Claudia mit dem vorgeschlagenen Preis für die Insel einverstanden war. Sie vereinbarten einen Termin um die Geldgeschäfte zu erledigen und die Inselberechtigungen abzuwickeln. Margaux bestand auf dem selben Tag. Damit war das Abenteuer Brocéliande erledigt.