Die Geographie der Demiurgen

Ein Projekt im Rahmen des Nanowrimo 2023

All die Zeit! Mit vollen Händen haben wir sie zum Fenster rausgeworfen. Es gab ja so viel davon und wir wollten unbedingt unsere Welt zum Leben bringen. Doch es waren, letzten Endes, Totgeburten. Heute, fast zwanzig Jahre danach, drängt es uns, Rechenschaft abzugeben, fordern wir uns auf, die Vergangenheit mit Kritik zu durchforsten. Wir haben nur noch wenig Zeit. Wir wollen wissen, woher wir kamen und wohin wir gingen, ja: entscheiden, ob wir überhaupt in der Virtuellen Ralität weiterleben wollen. Lebenszeit, nur ein Bruchteil bleibt uns von ihr: hier wie dort.

Es ist die Geschichte einer Demiurgin mit Namen Kari Inouri. Ein, trotz all der heutigen Drehungen und Wendungen im Identitätskarussel, zutiefst weiblicher Avatar, gleichsam alterslos jung, so wie es Avatare meist zu sein pflegen. Niemand aber vertraue dem Alter!

Die Akteurin ist fast zwanzig Jahre alt. Nicht reales Lebensalter, wie sie es als unbedarfte Leser wohl denken wollen, sondern Alter auf dem Grid. Ihre Geburt fand in den Synapsen der Netzwerke statt, die uns zunehmend entwirklichen. Mit dem Login entleiben wir uns und die Uhr beginnt zu ticken. Plötzlich sind wir 20 Jahre alt – es sei denn, der Avatar wurde wieder mal gewechselt. Schon William Gibson hat von diesem Plug In geschrieben, lange bevor die Demiurgen der Virtuellen Welt geboren wurden.

Warum Demiurgin? Platon hat den Begriff geprägt. Aus dem Handwerker der Antike machte er den Schöpfergott, der die Welt auf vernünftige Weise planmäßig errichtet. Das ist es auch, was Demiurgen heute tun: virtuelle Welten erschaffen, in bestem Glauben, am Stand der Zeit. Sie sind Handwerker und Künstler zugleich, Kunstwesen allemal.

Doch bald schon verkehrt die philosophische Kritik den schöpferischen Gott Platons ins Gegenteil. Aus dem Vollkommenen wird der Mangel, die Demiurgin zu der, die das Fehlbare in die Welt setzt: eine Torin mit Hang zum Unheil. Und so sehen wir die Demiurgin auch als Gescheiterte, die die pompösen Räume des Hypergrid durchwandert, die sie mit ihrer Übergrösse verhöhnen.

Die Geographie will noch kurz beschrieben sein. Wir bewegen uns auf fragwürdigem Gelände. Es ruckelt, es kreischt. Ein falscher Spielzug und die Pixel richten sich zugrunde. Ätherische Wesen sind es, diese virtuellen Welten. Unsere Gegographie versucht sie zu begreifen: ihre physische Erscheinung, ihre Phantastereien und den Raum, in dem Alles geschehen soll. Jeder Demiurg erkennt jedoch sofort die Schwachstellen einer derartigen Unterfangens: zuviel Bemühen um die Objekte und ein eklatanter Mangel an Spielraum! Hat da die Phantasie den vielbeschriebenen Streich gespielt? Die Fragilität fordert letzendlich ihren Tribut: Download und Delete.

Wir schliessen diese Zeilen ab, die Lust auf Erklärung und Detail machen wollen. Mit dem Disclaimer: Niemand erwarte von diesem Text aber mehr, als das Fragment zu sein, das er ist; ein rasch skizziertes Produkt des NanoWriMo2023.

Die Demiurgen rufen Kari zu: “So, und jetzt beginn zu leben, so du nur kannst.” Und sie geht ihren Weg, mindestens dreissig Tage lang projiziert sie zwanzig Jahre Virtual Reality.

“Wie ein Origamitrick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, das sich in die Unendlichkeit dehnte (…) Und irgendwo er, lachend, in einem weiss getünchten Loft, die fernen Finger zärtlich auf dem Deck, das Gesicht von Tränen der Erleichterung überströmt.”

William Gibson, Neuromancer, 1984

“Virtual Reality is a technology that concinces the participant that he or she is actually in another place by substituting the primary sensory input with data received by a computer (…) when the virtual world becomes a work space and the user identifies with the virtual body and feels a sense of belonging to a virtual community.”

Michael R. Heim, Scientist

“I am a bricklayer, not an artist. I have always struggled with the automatic definition of a builder in Virtual Worlds as an artist. I perceive my approach as more technical, conceptual, scientific, strategic and yes, maybe political – but not artistic. My builds are not a reproduction of my fantasy but rather of some existing reality. With them I want to show the long lost, the unreachable, the unseen to the visitors of my regions.”

Tosha Tyran, Builder on Craft World

“Welcome Friend! This is a Writers' Colony. We sit around and talk about writing :–) But please be patient,  this world may take some time to open. And just like any good book it also takes some time to explore. Grab a boat, or wander on foot. Come back again :–)”

Arton Tripsa, Builder on Kitely

Sie hatte schon viele Namen im Laufe ihres fast zwanzigjährigen Lebens: Margaux, Ojal, Divija, Sylvie und dann: Kari Inouri. Ausgespuckt in einem Welcome Center von Second Life lernte sie schon bald die ersten Schritte in dieser faszinierenden Welt kennen. Es waren die Routinen gelungener Tastenkombinationen, die das Sitzen, das Gehen, ja sogar das Fliegen ermöglichten und so den Forscherdrang ihres Avatars erst ermöglichte. Wenn erst die Finger gehorchten, würde der Geist schon bald folgen. Nach wenigen ungeschickten Versuchen gelang dann die Bewegung auf dem Grid. Eine Welt voller Wunder erschloss sich, die es zu entdecken galt. Kari war unter den Ersten, schon mit von der Partie, als Second Life noch ein Geheimtip war. Ein anderes Leben? Sie hatte auf IRC über dieses unbekannte Territorium gelesen, das die Presse zum Vergleich mit den Entdeckungen des Christoph Kolumbus herausforderte. Im gleichen Zug stellten sie dort auch noch den Reichtum der spanischen Konquistadoren in Aussicht. Kari war nun eine von ihnen!

Auch Der Spiegel war enthusiasmiert – und widmete dem Phänomen Second Life gleich ein Tagebuch, in dem die Welten und Phänomene erforscht und die neuen Konquistadoren “embedded” begleitet wurden. Die Zeit betrieb 2007 sogar Zukunftsforschung und gerierte sich wieder einmal als weise Tante: “Second Life gilt deshalb als Vorbote des künftigen Internets. Es verwirklicht eine lang gehegte Utopie unter Computerexperten, Science-Fiction-Autoren und Zukunftsforschern: Virtuelle und reale Welt verschmelzen.” Na ja, es sollte wohl ein wenig anders kommen!

Aber bleiben wir noch einige Zeit in den Anfangszeiten dieser Neuen Virtuellen Welt. Endlich! In der Eintönigkeit der globalisierten Welt mit seinen Wochenend – Städteflügen, Urlauben am Meer, eintönigen Flughäfen und ewiggleichen Hotels gab es nun einen neuen Kick fürs Bewusstsein, etwas gänzlich Unbekanntes. Dies schien voller Möglichkeiten und Abenteuer zu sein. Optimismus überall: Linden Dollars für die einen, gelungene Demokratie für die Anderen, aufregende Welten für die allerorts Reisenden, Fun Factor für die Meisten. Staunen auch: Was das Internet denn nicht alles konnte! Vielerorts betätigten sich auch auch weissbärtige Verschwörungstheoretiker mit langen Haaren. Auch Althippies, die sich damals schon gerne in ihren Welten abkapselten und ihre Phantasien abfeierten. Natürlich: ein grossartiger Ort, den sehr privaten und verhängnisvollen Hang zum Eskapismus ausleben zu können. Viele wollten bedient werden! Selbst die Star-Trek-Apologeten.

Paradiese entstanden, Elfenreiche, Industriefriedhöfe, aber auch mittelalterliche Welten, die sich in literarisch inspirierter Tyrannei übten: ein wenig Gor hier, ein wenig Gegenerde dort. Den verkappten Frauen (die insgeheim wahrscheinlich Männer waren) schien das Joch zu gefallen, das sie beflissen auf sich nahmen. Alles war eitel Wonne! Wie immer, wenn damals von digitalen Utopien erzählt wurde, glaubten viele fest daran: an funktionierende Kommunikation, unerschöpfliche Kreativität, das Gute im Menschen und dass der Markt alles regeln würde. Eine strahlende Zukunft würde entstehen. Die negativen Phänomene nahm man gerne hin: Antidemokraten, Freiheitsapologeten, Griefer, Copybot – User und Pädophile. Das würde sich schon einrenken, eine Aufgabe für die vielen Lindens, die auf dem Grid im Auftrag von Linden Lab als lustige Avatare verkleidet herumschwirrten! Auch die Pädagogen bastelten an ihren Lernumwelten in Second Life und faselten von Immersion und Neuem Lernen: virtuelle Universitäten entstanden, um Jahre später wieder zu schliessen. Angelockt durch den medialen Hype vom Reichtum, den man in virtuellen Welten gewinnen konnte, beschlossen zudem reale Unternehmen, ihre Firmensitze in den Virtuellen Welten abzubilden. Adidas, Dell, DaimlerChrysler – alle hatten sie ihren virtuellen Firmensitz auf gemieteten Inseln, so als könnten sie etwas versäumen. In Wirklichkeit ging es nur um ein Geschäftsmodell mit seinem Kernstück, dem Linden Dollar, der in einer eigens geschaffenen Bank in harte Währung Dollers getauscht wurde. Doch davon später.

Schon 2004 hatte Kari ihren ersten Account und rieb sich “in-world” (ja, so sagte man das damals voller Stolz) vor Verwunderung die Augen. Auf den Sandboxen summte es von Kreativen, zahlreiche Gutmenschen und Wichtigtuer stellten ihre Freebies in zu gross geratene Markthallen zur Verfügung, der bunte Würfel wurde zum tonangebenden graphischen Element der Welten, die Kari neugierig besuchte. Kleine Läden machten auf. Market Halls entstanden. Sex allerorten, betrieben auf sogenanten pose balls, die beim Berühren ihre geschmacklosen Animationen abspulten: rosa für die Mädchen, blau für die Buben. Sex in allen Spielarten; Bondage vor allem: Knebel, Hundeleinen, Handfesseln, Halsbänder, Anleinpfosten. Gor war begeistert. Grellbunt war diese Welt, mitunter viel zu gross und schrill geraten. Eine Unmenge von Clubs entstanden, in denen sich potentielle D-Janes tummelten. Während man sich selbst beim Tanzen bewunderte, wurde in schlechter Qualität jene Musik gestreamt, die man in der realen Welt in guter Qualität hören konnte. Aber seis drum. Grossspurig optimistisch, also durchwegs prototypisch us-amerikanisch, war das Alles, fand Kari nun schon leicht distanziert. So viel Naivität, sexuelle Ungelenkigkeit und optimistische Emphase war fast schon rührend, so viel Pioniergeist bewundernswert. Der virtuelle Wilde Westen der 2000er eben: einer hauptsächlich für Erwachsene. Die Kinder waren kaum anzutreffen, die übten sich in einem für sie vorgesehenen Kindergarten und dann später voller Begeisterung bei Minecraft.

Begeistert nahm Kari immer wieder die Bahn oder das Pod auf dem Second Life Mainland und blickte in gemessener Fahrt auf die zahlreichen Bauten, die sich neben ihr materialisierten: eine ungelenke und etwas aus den Fugen geratene Welt, die aber Lust auf mehr machte. Doch in gleichem Masse, wie die Builds in die Höhe schossen, grenzten sich die Mehrzahl der Einwohner auch von einander ab und schlossen sich auf ihren Parcels ein. Überall die hässlichen gelben Streifen nun, die den Zugang zum heiligen Eigentum verwehrten: als hätte man nicht alle technischen Möglichkeiten gehabt, sich auch anders vor Griefern zu schützen. Auch der Sichtschutz zum Nachbargrundstück türmte sich mit mehr oder weniger geschmackvollen Texturen vor den Augen der Reisenden auf. Was einst schwereloses Gleiten und Fliegen bedeutet hatte, war nun als Reise fast unmöglich: Sperren, Verbote, schockierend rasches Entfernen des eigenen Avatars vom Grundstück des Anderen mittels elektronischer Wachsysteme. Wie so oft auf dem Gipfel eines Hypes: auch die Entdeckungen schienen letzten Endes erschöpft zu sein, es erschien auf dem Grid einfach nur ein Mehr vom Immergleichen. Zeit für einen Wechsel, auch im eigenen Verhalten. Nicht mehr Fly und See, sondern Stay and Build.

Nach den ersten, wildromantischen Entdeckungsflügen durch die neuen Territorien war Kari deshalb schon bald damit beschäftigt, die neue Sprache der Primitives, des Terraforming und der Skripte zu lernen. Auch sie wollte nun Builderin werden und nicht mehr nur als Besucherin an der Aussenhaut der bunten Blase kratzen! Zum engeren Kreis gehören und mitgestalten wurde zur Devise.

Doch wo die komplexen Baumethoden lernen, wenn nicht nur nach Trial und Error oder mittels Anleitung durch Erfahrene. Richtig: Tutorials im Netz! Noch heute summt Kari das enervierende Synthesizer – Jingle von Torley Lindens Second Life Videotutorien in den Ohren. Torley war in dieser Zeit das Gesicht von Second Life. Mit Begeisterung nahm er gerne auch die Ungeschickten an die Hand nahm und redete ihnen ein, dass SL immer für seine Konsumenten da war. So wie er einmal Newbie gewesen war und es bis zum Second Life “Resident Enlightenement Manager” geschafft hatte, würde es auch den Ankömmlingen gelingen, sich zu integrieren und in der informellen Hierarchie des Grids aufzusteigen. Torley stand gerne in den Welcome Centern und biederte sich an. Er war das Grün-Pink der Wassermelone, das bald zu seinem Markenzeichen wurde. Bunt wie der Grid, geschmacklos wie viele seine Residents, abstrus wie das Meiste. Daneben klotzte Torley in schöner Regelmässigkeit seine kurzen, aufgeregt hysterischen und inhaltlich dürftigen Videos in den gerade erst gegründeneten YouTube Kanal. Zack, Bumm und wieder ein wenig freundlich überdrehte Info: über Primitives, Notecards und Viewerbedienung. Wirklich gelernt hatte Kari bei dem Jungen, der später zur Frau wurde, allerdings wenig, zu fragmentarisch waren seine Botschaften. Aber wahrscheinlich war das auch nicht der Sinn seiner Auftritte, die eher gut gelungener Werbegag, denn technische Instruktion waren. Indes, seine Karriere endete spätestens, als Linden Lab seine Affäre mit der Virtuellen Welt von Sansar abrupt beendete, bei der sich “Torley immer am Ball” engagiert hatte. Ein Opfer der Konzernpolitik? Emotionales Desaster? Allüren einer Drama Queen? Grosse Teile der Community trauerten ihm jedenfalls nach. Es waren glühende Liebesbriefe, die Torley da in seine neuen Welten nachgeschickt wurden: “He was a slim young dude in flowing neon clothes who hauled his keyboard around everywhere, and though a relative newcomer, quickly charmed Second Life's citizenry with his quirky, mad creative charm.”

Noch heute, zwanzig jahre danach quäken seine Videos in Youtube. Wie gesagt, so richtig gelernt hatte Kari von ihm nichts. Sie war eher schockiert ob so viel lärmender Nichtigkeiten. Eher war er für sie ein Epiphönomen, das mehr über den frühen Geist von Second Life aussagte als über sich selbst. Sie vermisste ihn nicht: Torley Linden, die Wassermelone der Community, 2004 – 2020.

Doch bald kamen auch Tutorials auf den Markt, die sich dem Thema des Buildens in einer ernsthafteren und nüchternen Art und Weise widmeteten. Die Zahl dieser Tutorials abseits der Leutseligkeit Torleys wuchs: rasch lernte Kari die Formensprache des Grid und gewann eine gewisse Routine: begann mit ihren vielen Builds, den Sessel und Tischen, Reklamewürfeln, Hinweisschildern und Gebäuden, die sie sorgfältig mit Texturen versah und im Notfall auch skriptete. Sie liess erste Würfel rotieren, fertigte traurig-seltsam an ihren Mästen hängende Flaggen an und bastelte an Phantasieblumen. Sie wagte sich langsam an Architektur, die freilich in SecondLife eigenen Gesetzmässigkeit folgte. Sie lernte die vielen Begrifflichkeiten, um über das zunächst Unsagbare sprechen zu können: Prim, Landscaping, Alt, LSL, Sculptie, Snap to Grid, und vieles anderes mehr. Nicht nur an Videos, sondern vor allem In-world lernte man viel. Denn noch immer half man sich gerne bei der Erschaffung der Welt und war, wie alle Pioniere, auf einander angewiesen.

So viel Neues, so viel Unentdecktes! Und so viele Hickups auf den Servern von Linden Lab, die kaum mit dem Ansturm der Neugierigen zurechtkamen. Im. Jahr 2007, auf dem Höhepunkt des Hypes, hatte sich die Zahl der registrierten User/Resident auf zwei Millionen verdoppelt, 2011 waren es bereits 21 Millionen: viele Avatare waren jedoch Doppel- und Dreifachnutzer. Kaum konnten die Linden-Macher den Ansturm auf ihren Serverfarmen bewältigen. Ach, welch frustrierende Momente waren das, wenn sich die Welt wieder einmal aufhängte, wieder einmal alles Down war und man nicht wusste, was mit dem freien Abend sonst anzufangen war. Eine stotternde Welt war es, die erst mühsam das Laufen lernen musste. Doch das schreckte nicht ab, sondern war eher ein Zeichen für die Besonderheit einer Neuen Welt, die so viele kennenlernen wollten und zu der man gehören musste: koste es was es wolle. Kari war in die Szene Second Life’s mehr verwickelt, als sie tatsächlich wahrhaben wollte.

Alles sah sie nun auch im realen Leben in der Formensprache des Grid: Sitzbänke, Sofas, Hüte, Supermarktregale, Häuser, Parkanlagen. Sie skizzierte vielversprechende Objekte in ein Notizbuch und versuchte sie in-world nachzubauen: nicht immer mit Erfolg. Aber an solchem Scheitern und Korrekturen der Wirklichkeit wuchs ihr Verständnis für die Geomentrie des Baumenüs und darüber, was architektonisch möglich war und was nicht. Langsam begriff sie auch, dass die Virtuelle Welt niemals eine möglichst detailgetreue Nachbildung der Realität sein konnte, sondern ihren eigenen Gesetzmässigkeiten folgte. Diese auszuloten war sie angetreten. Und bis heute machte sie wohl nichts Anderes.

Willkommen also bei diesem Intermezzo, das als virtuelles Welcome Center gelten kann. Den Leser eifertig an die Hand genommen, um zu zeigen, wie ein Buch auch funktionieren kann. Zu lesen beginnen und dann umblättern, wenn die Seite zu Ende geht. Dazwischen atmen und den Blätterfinger nass machen. Sich das Getränk zurecht rücken oder vielleicht auch eine Zigarette. Ist es denn so schwer, mit dem Lesen zu beginnen? Schreiben ist noch viel schwerer. Beides eigentlich sinnlos, in Zeiten der Bilderschwemme.

“Immer diese Welcome Centers, auf denen man automatisch nach dem Einloggen in einen Grid landet”, dachte sie genervt. “Kann das nicht mal anders gehen?” Nur ungern wird Kari Inouri auf ihren gegenwärtigen Reisen im Hypergrid daran erinnert, wie unsicher sie einst war, damals, im Jahr 2005 in Second Life. Noch nie zuvor hatte sie einen Avatar besessen, noch nie zuvor war sie ins Kleid dieser seltsamen Echse geschlüpft, die sie sich auf der dazugehörigen Website hatte aussuchen dürfen. Hässliche Echsen, allesamt!

All diese Fragen: Welcher Avatar wollte man werden? Wen sollte man aus dem bereitstehenden Angebot aussuchen? Und wie wollte man eigentlich aussehen? Mann, Frau, Furry? Naives Heimchen, Fashionista oder Urban Resident? Femme Fatale vielleicht oder penisverunstalteter Muskelprotz? Das waren schwierige Entscheidungen, die zu treffen waren. Völlig sicher war sich Kari damals nicht, ob man später in-game wieder alles rückgängig machen könne. “Was liegt, das pickt”, hatte man bei ihr zuhause bedeutungsschwer angesichts schwieriger Situationen gemurmelt. Da zögerte man gerne, bis die Chance an einem vorbeigezogen war. Unsicherheit hatte sich vor ihrem Computer breitgemacht, eine Aufregung, derer sie sich bis heute nicht gänzlich hatte entledigen können. Noch sass man als zögernde Person hinter seinem Keyboard und schon bald würde man in einer fremden Spielewelt den neuen C.h.a.r.a.k.t.e.r. annehmen und zu seinem Namen und Aussehen stehen müssen. Was heute für Gamer als Routine gilt, war damals ein prekärer Entscheidungsfindungsprozess. “Nur nicht mit dem frisch gewählten Avatar scheitern!”, war Karis oberste Devise. Zitternd lagen die Hände am Keyboard.

Die ersten Momente in der Virtuellen Welt. Mutig auf den Button der SL-Anmeldeseite gedrückt und nach wenigen Sekunden aufmerksamer Spannung war man im Welcome Center angelangt. Damit hatten sich die Architekten von Linden Lab grosse Mühe gemacht, denn allzu schnell loggten sich die Zaghaften wieder aus, wenn ihre Spielerwartung enttäuscht wurde, auf Nimmer-Wiedersehen. Kundenbindung war aufzubauen, die Konsumenten sollte man easy hineinschlittern lassen in das Inferno des Konsumierens und erst dann auspressen wie eine Zitrone. Kari konnte sich gar nicht mehr so richtig erinnern, welche Erwartungen sie damals gehabt hatte. Möglicherweise es nur die Eine gewesen: Nicht an sich scheitern zu dürfen.

Enter also trotz all der Bedenken und die Novizin erschien vor ihren Augen am Bildschirm im neuen Gewand einer dichtgepackten, rötlich schimmernden Wolke: als erster Avatar ihres Lebens, mit ungewohntem Namen und blödem Gesicht. Der Avatar materialisierte und sah schlimmer aus, als man befürchtet hatte. Er hatte nichts von dem Traumgebilde, das man sich erwartet hatte. Aber allen ästhetischen Zweifeln zum Trotz: es gab diese Neue Welt tatsächlich, mit ihrem Wegesystem, den Verweilinseln, den blassen Texturen, Bäumen, Sträuchern und sprachlich schlampigen Erklärungen auf überdimensionalen Schildern. Zudem gab es da auch noch andere Avatare, die, wie man gerade selbst, sich zunächst als Wolken, dann als Avatare materialisierten und blöde vom Himmel fielen. Schnell weg aus dem Bereich, wo alle spawnten und einem mir nichts dir nichts auf den Kopf sprangen, vom Nirgendwo kommend. Denn die neu geborene Kari war im Landebereich stehen geblieben, voller Erstaunen über die Welt, die sich langsam auf ihrem Bildschirm aufbaute. Sie war voller Angst, nicht zu wissen, was in den kommenden Momenten geschehen würde und wie sie sich dabei verhalten sollte. Da ging sie am Besten den Leuten aus dem Weg, hin zu einer stillen Ecke.

Oh Gott, war man als Neue ungeschickt und unbedarft. Ein Newbie eben, wie sie rasch den Namen dafür lernte; eine unbedarfte, naive Tussi, die nichts mit sich und den anderen anzufangen wusste. Gottseidank wankten auch die anderen Ankömmlinge im virtuellen Raum herum, ungesteuert, übersteuert, falsch gesteuert. Shift irgendwas, control anderswo, vorwärts, rückwärts – das neue Alphabet der Tastatur, mit der man diese Welt bedienen konnte, war unbekannt und sollte gelernt werden. Man hätte es auch anderswo, in anderen Spielen, nicht beherrscht, so dumm war man noch, spielerisch eine Katastrophe. Fest stand: Zu den IT – Nerds und Spielefreaks hatte man nie gehört. Auch deshalb stand man hier so dumm herum. Eine Veränderung der eigenen Haltung stand an, selbst musste man ein Freak werden, das war in den kommenden Monaten unbedingt zu leisten. Denn merkwürdig sah man schon aus, in dieser neuen Erscheinung, die Pinocchio mehr ähnelte als realen Menschen. Pumuckls, die herumstolperten, sich in Ecken festsetzten und andere Mitspieler über den Haufen rannten. Sooo schlimm! Soooo peinlich!

Jetzt war man mit Ach und Krach auf der nächsten Lerninsel angekommen, wo man Leute stehen sah, die sich weniger hektisch gaben. Viele von ihnen hiessen Linden, gehörten wohl zu einer Familie mit guten Absichten und schlechter Moral. Erfahrene Helfer, denen man Fragen stellen konnte. Agenten der Macht. Linden Lab Gesandte. Vorwärts, rückwärts, stehen geblieben, zittern. Aber nun, da man vor jemand stand, und angesprochen wurde mit “Hi! Can I help you?” – wie konnte man da selbst kommunizieren? Wie antwortete man jenen, die lässig auf den flachen Scheiben standen, die man als Neue Welt identifizierte? Eine Peinlichkeit war das wohl, besonders als der hilfsbereite Geist fortfuhr mit seiner Rede, die damals noch in einer kleinen Blase oberhalb seines Kopfes erschien. “Type somethig into the chat field at the bottom of your screen.” Stimmt, die Bedienerführung war ja auch noch da. Auf die hatte die neugeborene Kari völlig vergessen angesichts der Sonderbarkeiten, die sich hier auf diesem Bildschirm abspielten. Und man tippte, klopfte enter und war ein Avatar aus Fleisch und Blut. Tippfehler egal, ungelenkes English egal, Redundanz egal. Ein nunmehr sprechendes Wesen, aufgehoben in der Obhut eines Anderen. Eines Linden, den man sein körperliches Wohl anvertrauen konnte, und der einem die eigene Naivität und Dummheit mit Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Verführung vergalt. Man war geboren und wurde betreut: ach, wie schön! Noch war alles nett, noch war alles dazu da, einem das Leben erträglich zu machen, alles war ein Lernanlass zur Avatarwerdung. Ein Geburtsprozess in einer Welt, die, wie es schien, aus der eigenen Körperlichkeit, der umgebenden Architektur und einer wundersamen Gemeinschaft bestand, die Linden mit Nachnamen hiess.

Und schon bald, wenige Stunden nach der Landung konnte man sich im Welcome Center bewegen, gehen, laufen, fliegen, stehen bleiben. Und sprechen. Andere ansprechen, mit anderen sprechen, antworten! Diesen seltsamen Standardvatar etwa, der in in einer der Ecken eines halboffenen Gebäudes in einer Ecke vor sich hinzuckte und dabei immer in die Ecke hineinrannte, vor der er stand – diesen konnte man einfach ansprechen. Aber keine Antwort, der war einfach abgeschmiert ins Nirvana. Man bleibe vor solchem Schicksal verschont!

Doch lassen wir die alten Unsicherheiten unserer Heldin hinter uns und sprechen von einem Welcome Center der Gegenwart. Liess sie die alten Ängste des Nichtgenügens von damals gar nicht erst aufkommen, fand Kari die inzwischen Erprobte, waren diese Welcome Centers eigentlich ganz erträglich, athmosphärisch freundlich und technisch hilfreich. Das konnte man von vielen Plattformen, die heutzutage im Hypergrid für ein Willkommen sorgen sollten, wohl nicht sagen. Waren die Neuankömmlinge von heute geschickter, erfahrener, abgebrühter? Waren das Spieler, die sich ohnehin schon auf anderen Grids die Hörner abgestossen hatten und auf deren Wohlergehen man als Gridbetreiber einfach pfeifen konnte?

Es war natürlich so: Kari Inouri von Heute nutzte schon längst das verbrannte Second Life nicht mehr, sondern kam ganz dezentral und mit Open Software daher. So richtig begonnen hatte alles mit den Eskapaden der alten weissen Männer, die ihre Virtuellen Welten und Sozialen Medien mit hohen Mauern eingezäunt hatten und nichts zuliessen, worüber sie nicht die absolute Kontrolle hatten. Viele User “verzogen” sich deshalb in die dezentralen Dienste und zur freien Software, nannten es aber hochtrabend Flucht, so als hätten sie keine Entscheidung zu fällen, wo sie ihre Zeit verbringen wollten. Hier im Hypergrid und Fediverse war das Leben gemütlicher und vor allem billiger. Die Mauern, die man bei anderen verachtete, baute man sich als KonsumentIn nun selber, die Gesellschaft, die man bevorzugte, suchte man sich selber aus und litt an ihr trotzdem wie ein Tier.

Der Prozess der Dezentralisierung hatte inwischen auch in den virtuellen Welten stattgefunden, Second Life war verbrannt, inzwischen zu einem Konsumtempel verkommen, dem man nicht nachtrauerte, für den man sich letzten Endes viel zu gut fand. Also statt Second Life doch irgend ein gehosteter Open Simulator! Kari hatte schon vor Jahren den Hypergrid besucht, dabei das Engagement der Betreiber bewundert, sich aber bitterlich über die vorgefundene Designwüste beklagt. Bevor sie überhaupt eine fundierte Meinung zu der neuen Entwicklung beziehen hatte können, kam das Leben dazwischen, bedauerlicherweise. Sie zog sich zurück aus ihrer virtuellen Welt.

Jetzt aber war Kiri wieder präsent und besuchte den Hypergrid mit Ausdauer und Sachverstand. Und genau diese Erkundungen verschafften ihr die Gewissheit, dass mit den Willkommensräumen grobe Veränderungen vorgegangen waren. Diese waren nicht zum Besten.

Ein Beispiel: Das Welcome Center von The Swiss Grid, einem kleiner Anbieter, der vermutlich seine Server in der Schweiz betreibt. Kari fragte da nach, hat aber bis heute keine Antwort bekommen. Diesen Grid wollte sich Kari nun einmal vornehmen. Sie sollte Recht behalten: alles war anders als damals in den Unschuldstagen der Avatare.

Der Mechanismus war unverändert. Zuerst den Account einrichten auf einer doch sehr nüchternen gehaltenen Website; dann der Start des Viewers. Drin im Leben war der neue Avatar, den Kari der Einfachheit halber mit ihrem alten Namen versehen hatte. Jeder Grid sein Avatarname: man konnte sich nun auch namentlich verdoppeln, verdreifachen oder verzehnfachen, wenn man das nur wollte. Drin war die Frau: ohne Probleme. Aber im Vergleich zu den Kindertagen von Second Life fand sie kaum Pädagogisches, das einen Newbie hätte an der Hand nehmen können. Das Auffälligste waren die Flaggen und Wappen, damit die Angekommenen sogleich wussten, wo man in Europa gelandet war: Flaggen der Schweiz, ihrer Kantone und auch der Ukraine, aus Solidarität, gewiss. Dann vier Wege, vom Landepunkt wegführend, jeweils im Winkel von 90 Grad. Die Themen verwirrten Kari: Mit Wilder Westen (Salt Lake City) und einem mittelalterlichen Dorf hätte sie als Neuling kaum viel anfangen können. Auch als Old Hand fand sie das nicht sonderlich hilfreich. Im nächsten Quadranten eine Open Air Diskothek, wo man erfur, dass der Grid gerade sein zweijähriges Bestehen gefeiert hatte oder feiern würde. Und schliesslich Altgewohntes: ein Freebie Shop mit eigenartigem Namen, in dem bedürftige Avatare sich kostenfrei ausstatten konnten. Irgendwo am Gelände auch ein Hypergrid Teleporter, wo man sich bei Nichtgefallen gleich wieder wegbeamen konnte vom mässig interessanten Grid. Schliesslich ein Cafe und viele Schilder, auf denen stand, dass bald mehr Info eingerichtet werden würde. Worüber, fragte Kari sich, und warum nach zwei Jahren Bestehen sich im Provisorium einrichten? Ach ja, da waren noch mehrere Richtungsschilder, in Schweizer Wandergelb gehalten, die zu thematisch gehaltenen Regionen führten. Ein Welcome Center also? Richtig, ein Schild mit Hilfeangeboten: man stehe für Fragen zur Verfügung. Und weil Neuankömmlinge offenbar lästig sind, wird auch gewarnt, dass man nicht ohne Grund stören solle. Antworten würde man darüber hinaus ohnehin nur bekommen können, wenn die Helfer Online seien. Das fand Kari für ein Welcome Center frech. Kundenbindung sofort im Keim erstickt.

Was aber am Schwersten wog, aber kaum überraschend war: kein Mensch war im Raum, zur besten Zeit am Abend. Einsamkeit tropfte aus jeder Ecke der Region, Trostlosigkeit allerorten.

Etwas ratlos ist Kari ob eines derartigen Welcome Centers: hier möchte man als Neuling nicht landen, auf keinen Fall. Weder Fisch noch Fleisch, nur wenig durchdachte Pseudokost. Weder wurde hier Hilfe angeboten, noch wurde man an Hilfeposten vorbeigeschleust. Von den notwendigen Initiationsriten, die , die Virtualität erst begründen, keine Spur. Wenn keiner da ist, warum soll man dann auch bleiben? Wenn man nix lernen konnte, warum sich mit den Dingen um einen herum beschäftigen? Wenn nichts angeboten wird, warum danach suchen? Und selbst die Old Hands konnten all das nur mässig interessant finden: Mittelalter, na und? Wilder Westen: wozu? Tanzklubs: wie abgeschmackt! Was noch blieb, war der Freebie Shop. Und da wird Kari auch fündig. Denn der ist im Vergleich zu anderen am Hypergrid sehr fein. Deshalb wurden die feinen Dingen abgestaubt bevor man sich wieder verzog.

Beim Rückweg schaut Kari nochmals beim Landepunkt vorbei. Sie schnappt sich die Kope eines gutgebauten Humanoiden Roboters und probiert die Schweizer Wanderschilder. Sie möchte die einzelnen Regionen und ihre Builder kennenlernen. Vielleich auch Kunst sehen oder sich an klug konstruierten Regionen erbauen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Kari notiert, denn sie führt seit Jahren ein Tagebuch: “Tanstein, die Weisse Burg”, offenbar Nachbau einer real existierenden Ruine (Build von Nick Raven, Profil: “Der frühe Vogel mag keinen Wurm”). Viel zu gross geraten, aber die Sitzbänke sind interessant. Ein “Magic Jungle” zur Erholung, vom selben Builder, das übliche Naturreservat mit interessanten Bäumen. “Tesonikis”, eine griechische Naturlandschaft, wohl ein Versuch, sich Meteora in Erinnerung zu rufen, wieder von Nick Raven. Dann “Anis Heimat”. Der Leser wird sicher erraten, von wem.

Und spätestens da stockt Kari: alles von diesem Avatar, der Eigentümer von Swissgrid sogar? Keine Welt, sondern des Builders Einsamkeit? Kari hat nun schnell das weitere Interesse verloren. Sie wollte entdecken, (noch immer!), nicht den Obsessionen eines Einzelnen folgen.

Jetzt denkt Kari schon mit Wehmut an ihre Anfänge zurück, damals, als die Avatare das Gehen lernten. So schlecht war es gar nicht, damals in Second Life.

Eines Tages passierte es: Kari (die ihren damaligen Namen schon lange vergessen hat) verliebte sich in einen deutschen Avatar mit wippenden Pferdeschwanz und dem naiv anmutenden Outfit eines frischen Mädchenavatars. Man traf sich, tauschte Erfahrungen aus, begeisterte sich an den Sonnenuntergängen, wartete sehnsüchtig auf das “Online” des Anderen. Denn wer nicht online war, der lebte nicht, dem konnte man die überaus wichtigen Nebensächlichkeiten nicht mitteilen, der war weder zu beleidigen, noch zu lieben. Der fehlte einfach. Überhaupt liebte man nur In-World, im realen Leben vergass man hingegen schnell, was einen in der anderen Welt emotional beschäftigte. Pferdeschwanz musste einfach online sein: was sie in grosser Unregelmässigkeit zögernd tat. Das war für den Dauergast Kari zwar ein wenig schmerzhaft, aber letzten Endes wusste man sich auch anders zu beschäftigen.

Neben dieser Schwärmerei war man sich auch handwerklich sehr zugetan. Mit Eifer stimmten die beiden Mädchen die Menüs ihrer Viewer aufeinander ab, waren sie sich doch nie völlig sicher, ob man dasselbe bewunderte. Der Pferdeschwanz nutzte schon Firestorm, eine Art Gegenwelt zum betriebseigenen Viewer von Second Life. Auch das gab es! Andere Viewer ! Guerilla-Viewer sogar, mit denen man Kopien von jenen Sachen nahm, die nicht kopierfähig waren. Copybot Viewer waren illegal, wie man seitens Linden Lab den Residents allerorten versicherte. Selbst sah Kari noch konservativ in diese Welt und verwendete den SL eigenen Client. Sollte sie denn nicht lieber auch zu Firestorm wechseln? Das schien eindeutig cooler zu sein. Von Copy Bot liess sie zu diesem Zeitpunkt aus Unerfahrenheit noch die Finger.

Die Beziehung mit Pferdeschwanz war kompliziert. Verwirrt versuchte Kari das Geschlecht ihres Gegenübers auseinander zu dröseln. War nun de Andere im realen Leben männlich, weiblich oder war das egal? Spielte das eine Rolle in dieser irrealen Welt, die jedoch in diesem Moment nun sehr real war? Das Wirrwarr um Geschlechtsidentitäten von heute kannte man noch nicht, denn das hätte die Erotik am Grid völlig zum Erliegen gebracht. Dafür gab es insgeheim die ohnehin schwierige Vermutung, vielleicht selbst lesbisch oder schwul zu sein, steckte man doch im Körper des anderen Geschlechts. Durch Zufall natürlich oder aber aus Neugier: niemals aus Begehren! Das allein schuf schon Kopfzerbrechen. Also rang man sich mehr oder weniger zu jenem Geschlecht durch, das man als Avatar darstellte, auch wenn dies nicht der Realität entsprach. Wenn man sich aber selbst entschieden hatte, wie man im virtuellen Leben ticken wollte: passte das dann zu den Vorlieben des/der Anderen? Wie zum Kern der Identität des/der Anderen vordringen? Manche gaben über ihr eigenes reales Leben bereitwillig Auskunft. Manchen war jede Form von Real Life Touch verpönt. Aber wie sollte man sicherstellen, dass das Real Life Profil des anderen nicht auch ein Spiel war?

Ein gutes Beispiel dafür, dass Genderbending eine durchaus übliche Praxis auf dem Grid war, lieferte wieder der unsägliche Torley Linden. Denn jener Avatar schien offenbar nur eines an Kontinuität aufzuweisen: das der Wassermelone entlehnte Farbenspiel von Pink und Grün, das sich auf Torso, Haar und Kleidung widerspiegelte. Ansonsten war alles fliessend: sein Geschlecht (männlich, weiblich), sein Name (Torley Torgeson Sr., Torley Torgeson Jr., Torley Holmstead, Torley Linden), die eingenommenen Rollen. (Newbie, Linden Helper, Enlightenement Manager, Abtrünniger, Musiker). Wäre Kari einer dieser Second Life Celebrities gewesen, hätte man sicherlich Vergleichbares über sie lesen können. Nur Männer und Hysteriker, die hätte sie niemals geben wollen.

Die Leser werden nun schon besser verstehen können: Das Glück zwischen Pferdeschwanz und Kari war in Bezug auf Identitätsfragen überaus kompliziert und währte daher nur wenige Wochen. Es war zu verwirrend für das fröhliche Dasein am Grid, in dem man alles glauben sollte, was da von den Lindens daher geplappert wurde. Das haarwippende Gegenüber pochte mit einem Male auf die Freiheit, die sie niemals missen könne. Warum das plötzlich so war, wusste man nicht. Kari, deren Spielerin in den frühen Post Achtundsechzigern sozialisiert worden war, sah das theoretisch ein, fragte aber nicht genauer nach, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte doch stets den Vorlieben der Angebeteten entsprechen wollen! Willfährig war sie, sensibel, aufmerksam. Und nun diese Verletzung und der Anwurf, man würde klammern! Aber sei es wie es sei. Avatars gab es viele und Liebesaffairen wohl auch. Ausserdem schien Online – Liebe beschwerlich zu sein und vor allem: zeitraubend! Verletzt zu werden, war aber auch als Avatar nicht leicht zu ertragen. Lieber den Emotionen und Verwirrungen ein Ende bereiten und weiter die verlockenden Ebenen von Second Life durchstreifen. Neue Abenteuer lockten. Zudem: Beziehungen endeten abrupt auf dem Grid und die technischen Schritte für das künftige Ignorieren des Anderen waren schnell gesetzt: einfach ignorieren, einfach aus der Freundesliste werfen. Frau sah sich dann hoffentlich nie wieder. Kari war wieder frei, Pferdeschwanz ebenso. Gottseidank war man keine Partnerschaft eingegangen!

Dennoch verwies diese erste Liebe auf das mittlerweile nicht nur bei den Newcomern grassierende Problem einer prekären Balance zwischen Virtueller Realität (VR) und Realem Leben (RL). Second Life (SL) war so gesehen Teufelswerk und stürzte viele der ohnehin identitätslabilen Residents in ein tiefes Dilemma: Wer war man eigentlich wirklich? Mehr noch: Wer wollte oder sollte man eigentlich sein? Wen suchte man? Und suchte man überhaupt jemanden? Noch gerade in den nächsten Tanzpalast oder Poseball hineingestolpert, poppten die Komplikationen mit der Virtuellen Realität auf: männlicher pose ball, weiblicher pose ball? Gemischt? Gedoppelt? Nationalität, Alter? Wie hielt man es mit den Furries? Den Tinies? Den Kinderavatars? War man bi, schwul oder hetero? Man war sich seiner immer weniger sicher.

Am deutlichsten zum Ausdruck kam das beim Ausfüllen des eigenen Profils, was man schon bald nach den ersten geh- und Flugversuchen erledigte. Denn es war die mehr oder weniger umfangreiche “Visitenkarte”, die das unbekannte Gegenüber beim Klicken auf den Avatar zu Gesicht bekam. Was war über einen zu lesen? Das bereitete unentwegt Kopfzerbrechen, war jedoch eine Conditio sine qua non für das Zweite Leben. Man legte sich also schriftlich fest und wurde einschätzbar für die Anderen. In regelmässigen Abständen datete Kari deshalb ihr Profil ab, feilte an diesem, löschte jenes. Insbesondere die Opposition der Spalten Erstes Leben und Zweites Leben war tricky. Hier teilte man doch im Grunde die Differenz mit, die frau hinter dem Bildschirm jedes Mal auszuhalten hatte, wenn sie sich in Second Life einloggte. Wenn Kari diese Profile bei Anderen las, erfuhr sie oft die Grenzen, die sich Avatars selbst gesetzt hatten. Manche waren abweisend: “Frag mich nie nach meinem Ersten Leben” schrieben die einen, “Wenn wir einander vertrauen, erzähl ich dir was daraus” die anderen. Manche wiederum gaben die Zeitzone preis, in der sie schrieben, manche einen altklugen Spruch, manche ein Foto von sich (bei dem man nicht genau wusste, ob es nicht auch gefaked war). Kari bemerkte, wie sie sich in derartige Profile vertiefte und dann auch noch nach der Gruppenzugehörigkeit durchforstete, die die Avatars mit sich herumtrugen. Das grenzte oft schon an selbstverschuldetes Stalking, das Avatars mit ihren Profilen hervorriefen. Es war mithin wie eine Sucht: mehr Informationen aus diesen Profilen heraus zu kitzeln als ihre Träger bereit waren, explizit mitzuteilen. Kari erfuhr, wie es war zu stalken: diese Gier nach mehr, nach immer privaterem! Besonders perfid war in diesem Zusammenhang der Reiter “Notizen”, in dem man seine privaten Anmerkungen über den Charakter des betreffenden Avatars hinterlassen konnte. Beim nächsten Treffen konnte man sich dann rasch in Erinnerung rufen, was man aus der Begegnung mit diesem oder jenem gelernt hatte. Die eigenen Notizen erwiesen sich dabei oft als Peinlichkeiten, die man sogar als Autorin nicht mehr lesen wollte.

Sich in dieser wagen Welt der Identitäten zu bewegen, war unter Umständen sehr risikoreich. Rasch wurde man wegen seines eher detaillierten Profils in eine bestimmte Ecke gedrängt, oder wegen eines leeren Profils nicht mehr beachtet. Das war insbesondere für Newbies eine Falle, aus der sie sich nur schwer wieder heraus bewegen konnten. Einmal in einer bestimmten Community als was auch immer abgestempelt zu werden, und für immer darunter gelitten. Das Profil radikal zu ändern half da nicht sehr. Da blieb nur mehr ein Weg: sich von seinem alten Leben zu verabschieden und den Avatar aus dem Verkehr zu ziehen. Die vielen Doppelgänger auf dem Grid erklärten sich eben auch daraus: das die alte Identität nicht “geklappt” hatte und eine neue angenommen werden musste: aus welchem Grund auch immer. Den alten Avatar liess man dann gerne “auskühlen”, versah ihn nach geraumer Zeit mit einer anderen Identität und hoffte, dass man auf dem Grid nicht mehr erkannt wurde als das, was man einmal hatte sein wollen. Besser also achtsam mit seinem Profil und Aussehen umgehen und sich in regelmässigen Abständen davon überzeugen, ob auch alles mit dem eigenen Avatar stimmte.

Irgendwann zog Kari einen Schlussstrich unter all diese Überlegungen und Zweifel. Frau musste schliesslich spielfähig bleiben. Als Margaux Lapointe (denn so nannte sie sich nach dem misslungenen Tete a Tete mit dem Pferdeschwanz) posierte sie nun als starke und lesbische Frau, die wohl kaum mehr enttäuscht oder verletzt werden konnte. Dominanz war gefragt, Selbstbewusstsein! Derart ausgerüstet trieb sich Margaux in den vielen Freebie Läden und auf den weiten Sandboxen herum, bastelte an ihren Freundschaften und Bündnissen. Sie fühlte sich grossartig. Man. begann sie zu achten und natürlich auch zu fürchten. Denn nun war sie, wonach sie gesucht hatte: eine starke Frau, selbstsicher, ein wenig bösartig und vor allem affektgetrieben. Jemand, den man wegen seines Temperaments fürchtete. Zumindest die Amis, denen so viel Authentizität einfach zu viel wurde. Geblockt wurde Margaux deshalb oft. Aber was machte das schon aus! Der Menschen waren damals viele auf dem Grid. Auf alle Fälle vermied man Freundschaften mit diesen überfreundlichen und pseudohöflichen amerikanischen Linienmenschen, die einen voller Selbstverständlichkeit dümmlich fragten: “How are you today?” Als hätte man sich schon gestern gekannt!

Dass Margaux wegen ihres neuen Profils immer wieder von devoten Dummchen angesprochen wurde, nahm sie dabei bewusst in Kauf. Manche konnte man gut für die eigenen Zwecke instrumentalisieren. Richtig einlassen wollte sie sich aber auf das Spielchen Dominant-Unterwürfig nicht: auch dieses Identitätscluster schien ihr zu risikoreich. Cybersex auf Pose ball – Konstruktionen war ausserdem ohnehin nicht nicht das Ihre. Margaux war für höhere Weihen bestimmt. Während andere bereits begannen, Second Life mit der Gier des Raubtier-Kapitalismus zu filetieren, oder nach einer Liebesbeziehung zu suchen, wollte sie konstruktiv sein und am Aufbau von Second Life mitarbeiten. Sie kaufte Land, um handwerklich tätig sein zu können und sich mit ihren Builds die Zeit zu vertreiben. Auch die Zeit der Sandboxen war nun für sie vorbei, denn irgendwo wollte man seine Produkte doch permanent zeigen! So mehrten sich die Anzeichen es, das ein neuer Charakter geboren war: jener der glorreichen Margaux Lapointe. Kari war endlich erwachsen geworden.

Über weite Strecken war das die liebste Beschäftigung der neugeborenen Margaux: über Land fliegen, nach freigewordenem Land suchen, das Land anderer besuchen. Land, Land, Land! Das war nun das Synonym für den aufgespannten Grid. Es breitete sich unter einem aus, es kostete ein kleines Vermögen, es war das gutmütige Monster, das Linden Lab geschaffen hatte, um Geld zu generieren.

Sich in der Freizeit einzuloggen, zu warten bis der Avatar gerezzed war und dann aufzusteigen in den Himmel der monströsen virtuellen Welt. Unter sich Landschaften, bis an den Horizont, der viel zu lange spawnte. Plötzlich verwandelte sich der Spieler vom gebeutelten Werktätigen und geplagten Beziehungsgeschädigten in einen strahlenden Avatar, der realer zu sein schien, als die gebeutelte Physis vor dem Bildschirm. Der Avatar, nicht der Mensch war nun real. Immer wieder dieses Phänomen: sich plötzlich in sein Alter Ego zu verwandeln, das einen anderen Raum bereiste, der wichtiger war, als all die Nichtigkeiten der realen Welt. Wo spannende Herausforderungen warteten, wo alles so schmerzhaft aber auch befreiend anders war. Alle Physis fiel vom Spieler ab und machte sich erst nach stunden- bis nächtelangem Verweilen in der neuen Virtualität bemerkbar. Schmerzen in den Schultern, flirrende Augen, Rückenprobleme. Man sollte sich ausruhen, vielleicht ein wenig Bewegung machen, aber dann war da noch dies und dann noch das, was in-world erledigt werden sollte. Eine neue Idee auch und eine überraschende Begegnung, all das liess die Entscheidung, sich auszustöpseln, immer wieder hinfällig werden. Die Stunden verflogen, draussen begann es zu dämmern. Das Erste Leben investierte der Spieler in das Zweite Leben, mit ein wenig schlechtem Gewissen zwar, aber ohne Zögern! Das Verlassen des Grid war letztendlich begleitet von kompletter Erschöpfung, die den den Avatar gezwungen hatte, sich von all den wunderbaren Dingen In-World zu verabschieden. Man hatte das Gefühl unendlich viel geschafft zu haben, und doch blieb man hungrig auf immer mehr. Diese Erfahrung hatten viele gemacht und sogar ein Begriff wurde dafür geschaffen: „Avaddiction“ hiess das in der alten Sprache des Grid: Spieler, die so süchtig waren, dass sie mehrere Virtuelle Welten gleichzeitig offen hielten und jeden ansprachen, der ihnen dort begegnete.

Dem Spieler fiel das Buch von William Gibson in die Hände, und die Lektüre traf ihn wie ein Blitz. Hier wurde genau das Lebensgefühl beschrieben, das Margaux erst zu Margaux machen konnte. Der Cyberspace! Die Matrix! Der Cyberpunk! Begriffe, die Gibson schon 1984 beschrieben hatte und die jetzt, mehr als zwanzig Jahre danach auf Second Life nachempfunden werden konnten. Tief beeindruckt war der Spieler von der Szene, in der sich ein vom Leben gebeutelter Antiheld namens Case nach partieller körperlicher Genesung wieder an die Konsole seines Gerätes setzte konnte, sein Nervensystem mittels Drahtverbindung in die Konsole einstöpselte und den EIN-Schalter drückte. Da flog die Matrix auf ihn zu, da tauchte er ein in den Grid, da verlor er das Bewusstsein und gewann ein Anderes. Er wanderte im Raum, mit der Persönlichkeit einer anderen, verspürte ihren Schmerz, ihre Aufregung, stöpselte sich dann wieder aus. Für einige Zeit, aber nur, um zurückzukehren. Die Rückkehr in die düstere Alltagsrealität war schmerzhaft, aber unvermeidlich. Doch konnte Case in der Matrix kriminelle Aufträge erledigen, die im Real Life von sinistren Figuren benötigt wurden. Und Moral blieb aussen vor. Der Cyberpunk war geboren und auch die brave Kari wurde nun Teil davon. Blood , sweat and tears! Viel Schmutz und Grunge. Trostlosigkeit. Schräge charakterliche Verwerfungen. Implantate. Und das surrende Geräusch, das das Kühlsystem des Computers erzeugte. Ein elektrisches Flimmern auch, das sich im Gehörgang einnistete und sich beim erschöpften Einschlafen nicht vertreiben liess. Das Knistern der Matrix. Auch Margaux war ihre Gefangene.

Konnte aus Kari auch ein Cowboy werden? Auch sie sah nach dem Einschalten die Matrix auf sie zufliegen, auch sie spürte die Verführung des Virtuellen, und auch die Hände ihres Spielers lagen fast zärtlich auf dem Deck. Sollte sie einen Schritt weiter machen und aus ihrer Margaux den bezahlten Auftragscowboy erschaffen, der sich in die Matrix von Second Life hackte, das Eis brach, um Dinge zu machen, für die sie die Lindens bis ans Ende von Second Life jagen würden? Diese scheinheiligen Aufsteiger, die einst (in der Beta Fassung des Spiels) das Land selbst mit ihren Granaten zu deformieren pflegten. Und jetzt plötzlich, Göttern gleich, hatten sie IHR Land zum heiligen Gral des Profits erhoben.

Mit diesen düster – beschwingten Gedanken flog Kari nach dem Loggen über den Grid, sich ganz als Cyborg und Badass fühlend, und begann immer öfter, sich daneben zu benehmen. Denn der Mainstream amerikanischer Befindlichkeit begann sich nun auch auf Second Life auszubreiten und rief erbitterte Gegnerschaft in ihr hervor. Schon wieder hatte das Biedermeier zugeschlagen, schon wieder drohte das Kapital Übermacht über Alles zu gewinnen. Irgendwie musste Frau doch Stellung beziehen! Der Grid sollte nicht den Machern und Folgsamen gehören, sondern ihnen, den Konsolencowboys allerorten. Wenn sie also auf ihren Flügen in die Vorgärten der schönen Villen blickte, die sich da unter ihr entwickelten, machte sie in dunklen Stunden halt, prüfte, ob man nicht doch vergessen hatte den Objekteintritt oder das Stossen auszuschalten. Und wenn die Naivität des Grundstückseigentümers zu gross war, um sich abzusichern, stiess sie zu wie ein Raubvogel auf ihr kleines, süsses Opfer; baute etwa kleine Skripts in Würfel ein, die sie im Vorgarten versteckte und die das Unheil über dieses Grundstück brachte. Aus einem Würfel mach 10, 100, 1000, bis die Region abschmiert ins Nirvana eines geplagten Servers. Manchmal zog sie auch ihre von sinistren Avataren gekaufte Waffe und verpasste dem unten in seliger Kommunikation mit seiner Besucherin vertieften Owner einen Schuss auf die Körpermitte. Dann noch die hochauflodernde Brandbombe mitten ins Gelände, die alles in undurchsichtigen Nebel verhüllte, den Übeltäter inbegriffen. Drehte dann in sicherer Höhe ab und ward verschwunden. Wer vergessen hatte, sich und sein Eigentum zu sichern, der wurde bestraft. Ahnungslos litt das Opfer in seiner Rolle, wusste nicht wie ihm geschehen war. Überall auf dem Sim erschallte plötzlich die schmalzige Stimme George Michael auf dem Sim, oder schlimmer: kicherte ein Torley Linden mit seinem Synthesizer in der Gegend herum. Wie das in der Schnelligkeit abschalten? Schon die blosse Existenz eines netten, gepflegten Grundstücks war genug, um die Lawine an Gemeinheiten loszutreten, die in Margaux schlummerten. Besonders beliebt: sich in die Landkäufe einzumischen, dem Owner das Stück Land wegzuschnappen, bei dem der Preis noch nicht gesetzt war. Und schwupp, entwendet war das Land, dem allzu Langsamen, Verträumten oder dem Newbie aus seiner Obhut entrissen. Ein bedrohliches Armageddon schuf hier der bösartige Avatar! Und jetzt erst wurde die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, sich einen Alt anzuschaffen offenbar: Zur Tarnung konnte er dienen, als Spielfigur, um unentdeckt zu bleiben. Die eigenen Untaten verschleiern konnte er, wenn man VPN benutzte oder auch den Zweitcomputer.

Diese dunklen Mächte, die in Margaux schlummerten, waren aber nicht das Ergebnis eines pubertären Wutanfalls, die in dem Spieler schlummerten. Denn der war mittlerweile schon im besten Menschenalter, der Karriere zusteuernd, von der er immer geträumt hatte: angepasst und mit den Usancen seiner Branche bestens vertraut. Es war eher das Nachholen von dem, was er an verzweifelter Pubertät (noch) nicht ausgelebt hatte werden können. Black Witchcraft einfach, die man immer schon ausprobieren wollte. Und schliesslich ein ultimativer Test, was dem Avatar erlaubt war und was nicht.

Denn all die Regeln, die in der schiefen Balance zwischen Virtueller Welt und realem Leben erst entstehen mussten, galt es zu erkunden. Dies simplen Fragen: „Was war möglich? Was war erlaubt? Was war strikte verboten?“ Was in der einen Welt die Regel war, schien in der anderen möglicherweise anderen Gesetzmässigkeiten zu folgen. Unverrückbar waren die Geldgeschäfte und das damit erworbene Eigentum, das man mit umgetauschten Linden Dollars erwarb. Die galten hier wie dort. Einen Avatar über den Haufen zu schiessen, folgte jedoch schon anderen Regeln. Denn Avatars waren nur in Virtuellen Welten real, ihr Leben galt wohl nichts in der wirklichen Welt. Möglicherweise wurde man In-World gebannt, geächtet, selbst über den Haufen geschossen, weil man sich als Griefer betätigt hatte. Aber die reale Welt kratzte das alles nichts. Und doch gab es auch hier eine Regel: wenn an der Effizienz des Geschäftsmodells von Linden Lab gekratzt wurde.

Zuletzt waren Margaux Raubzüge auch eine Hommage an den hochverehrten William Gibson, der mit seinen Romanen eine ganze Generation von Heranwachsenden zu düsteren Gesellen verwandelte. Es war die anderen Seite der Margaux Lapointe, die fiese, unverantwortliche Seite, die sich hinter ihrer mühsam aufgebauten Fassade von Stärke und Verantwortlichkeit verbarg. Hier, wie auch im realen Leben des Spielers. Wo durfte man denn noch ungestraft widerborstig, böse und destruktiv sein? Es war die Dystopie, die allerorten sich zu regen begann, im Ersten wie im Zweiten Leben. Die Zeit der Finsternis schien gekommen: tatsächlich sprossen überall auf dem Sim der Grunge, die Industrieruinen, die düstere Matrix, der verwüstete Landstrich, die Nacht. Katzen frassen aus Tonnen, giftige Substanzen liefen aus lecken Leitungen, Fremde schossen dich ohne Kommentar mir nichts dir nichts in Stücke. BDSM und Vergewaltigung blühte in schmutzigen Ecken. Es gab Strassen, in die man sich begab, um vergewaltigt und geschändet zu werden. Snuff war plötzlich in. Ganze Regionen waren dem freiwilligen Selbstmord gewidmet. Man konnte sich und anderen beim Sterben zusehen, das galt zunehmend als cool.

Margaux konnte sich dem nicht ganz entziehen: sie durchlebte ihren Jekyll and Hyde und bedauerte stets in nüchternem Zustand, was sie in der Trunkenheit der Nacht angerichtet hatte. Es war aber nicht die Moral, die sie dann plagte, sondern das Gefühl, sich selbst als Demiurgin verraten zu haben.Denn eigentlich wollte sie Welten schaffen und nicht zerstören.

Nach diesen Stunden, wo sie sich wieder auf einen Streifzug durch die verhassten Areale des Mainstreams begeben hatte, um dort ihre Mission zu erfüllen, kehrte sie erschöpft, aber befriedigt auf ihren kleinen Streifen Heimat zurück. Sie überlegte dann stets, ob sie ihren Avatar nicht erneut ausstatten konnte, weg von der kräftigen und gebieterischen Frau hin zu einem mit allerlei Implantaten ausgestatteten Cyborg, der gerade in Mode war. Würde ihr das ihrem Charakter nicht viel mehr entsprechen? Das Abseitige, Verdrängte verkörpern? Einen Avatar kreieren, der die Idioten auf dem Sim aufmischte? Sie probierte Skin und Kleidung, fand sich toll, verstaute aber das Equipment schliesslich wieder beschämt in ihrem Inventar. Der Hang zum Konstruktiven obsiegte: sie blieb Margaux und verdrängte das schlummernde Beast in ihr. Sie war zu brav all das auszuleben, was als Triebimpuls in ihr schlummerte. Dann doch lieber die einigermassen akzeptierte Lesbe geben. Eine Episode waren all die Gemeinheiten, gewiss. Eine traurige Befindlichkeit, so oder so.

Gibson jedoch, den las sie weiterhin, an dessen Eskapaden und körperlichen Gefährdungen berauschte sie sich in Spielpausen. Die Sprawl Trilogie, das Standardwerk, Bibel ihrer in-world Existenz, die sie jedoch ganz fest in ihrem nervösen Pixelherzen verschliessen musste. Gleichzeitig wüsste sie, dass ihn völlig falsch interpretierte. Sie las ihn aus der Perspektive derjenigen, die ein Vorbild brauchten, sie las ihn aus der Perspektive der Griefer von Second Life. Gibson jedoch konnte nicht wissen (und daher verantwortlich sein dafür), was später im Netz passieren sollte. Mit den Augen des Anderen zu sehen, war ein gefährliches Geschäft geworden.

Aber immerhin, der Missbrauch am Eigentum hatte immerhin bewirkt, dass sich Kari intensiv mit den Funktionen des Landmenüs ihres Viewers auseinandergesetzt hatte. Sie beherrschte es aus dem Effeff. Wer wusste, wie man Schaden anrichtet, wusste nur zu gut, was man tun musste, um von den Attacken vorbeileitender Avatar verschont zu bleiben. Manchmal träumte in konstruktiven Momenten auch davon, Landscaperin zu werden und an Aufträgen anderer gegen bare Münze zu arbeiten. Ganze Inseln wollte dann erschaffen: oben in der Luft schwebend hätte sie am Boden Zauberei bewirken wollen, wunderschöne Regionen schaffen, und dabei harte Linden Dollars verdienen. Auch das war freilich ein Traum, den sie sich nie erfüllen würde.

Eine vom Bösen geläuterte, elegante und ein wenig gothic gekleidete Margaux Lapointe war es also, die Konsequenzen aus ihrem Leben zog. Nicht mehr wie ein Habenichts wollte sie auf dem Grid umherwandern, nicht mehr den Grid erkunden und bestaunen, nicht mehr die Apokalypse über andere bringen, nein! Die Lehr- und Wanderjahre waren endgültig vorbei. Das drückte sich auch in ihrem Profilbild aus, welches seriös in schwarz-weiss gehalten war und von einer namhaften Künstlerin belichtet worden war. Unter dem Bild stand in aller Klarheit:

“Domme and biz woman. Capable to lead the way. Founder of Broceliande Island, which is now managed by new owners.”

Auch die von ihr angegebenen Gruppen sprachen eine deutliche Sprache: Pussycat Fighters, Fallen Bondage Club, Freebies that Aren’t Crap, Talent Land, Builder’s Tools and Gadgets. Die wehrhafte Demiurgin eben!

Es war an der Zeit, die Dinge in die Hände zu nehmen und eine eigene Welt zu bauen. Das nötige Handwerkszeug besass Margaux ja schon: den Viewer beherrschte sie leidlich (sie war inzwischen auf Firestorm umgestiegen, weil viele behaupteten, das dies ein wirklich professioneller Viewer sei), mit den Bau- und Landwerkzeugen kannte sie sich gut aus und wenn ihre Fertigkeiten da und dort noch ausbaufähig waren, beruhigte sie sich schnell: “Was noch nicht war, konnte im Laufe der Zeit ja noch werden”.

Land besass sie nun auch, eine schmale Parzelle von 2048 m2 zunächst nur, auf der ein Einkaufsladen entstehen sollte. Nach reiflicher Überlegung hatte sie beschlossen, ihren Wirkungsbereich ein wenig auszuweiten und dafür Geld in die Hand zu nehmen. Das “Wenige” war für ihre Verhältnisse schmerzhaft, Land war in der Zwischenzeit eine knappe Ressource geworden und verhältnismässig teuer. Linden Labs hatte in aller Selbstzufriedenheit mit seiner Wertschöpfung begonnen und die Kapitalisierung des verfügbaren Landes energisch vorangetrieben. Künstliche Verknappung war die Devise. Man teilte eine vorhandene Region in Stücke und verdiente häppchenweise auf doppelte Weise: am Grundstückspreis, den man an irgendwelche Landlords bezahlen musste, und an der Miete, die monatlich an Linden Lab zu berappen war. Zudem erwies sich auch der Avatar selbst als Kostenträger: für ihn berappte man eine Jahresgebühr, um Land kaufen zu können. Linden lebte gut davon. Für die meisten Residents jedoch summierten sich die monatlichen Kosten, wenn man neben der Miete auch noch die routinemässigen Einkäufe für Avatar und Klamotten in Rechnung stellte. Ein teurer Spass, den man nur in Kauf nahm, wenn man es richtig ernst meinte.

Aber es waren nicht nur die Kosten, die der Landbesitz insgesamt verursachte, eine Menge anderer Probleme kamen noch hinzu. Die lagen offen vor aller Augen. Der Mut bzw. die Wut zum virtuellen Eigentum hatte sich auf Second Life und insbesondere auf dem Mainland ausgebreitet. Das führte unter anderem dazu, dass sich jeder herausnahm, das zu bauen, was ihm gerade zu Gesicht stand. Ästhetik und Umwelt hatten sich da weit hinten zustellen. Überall entstanden hässliche und überdimensionale Burgen, riesige Klubs, die man von aussen gesehen höchstens als schmucklose Quader bezeichnen konnte, Ferienhäuser im barocken Stil der Pseudo-Neureichen, die sich endlich mal etwas leisten wollten. Halbfertige Bauruinen allerorten, einfach Sandboxen für den eigenen Bedarf. Dass man im öffentlichen Raum konsequent seine pubertären Phantasien hinsetzte, schien die neuen Bauherren nicht zu interessieren. Eigentum als Beleidigung des öffentlichen Interesses war es, was da am Mainland gebaut wurde. Wollte man wirklich so hässlich wohnen? , fragte sich Margaux. Alle verhielten sich so, als hätten sie tatsächlich das Recht, alles zu bauen, was ihnen in den Sinn kam. Und niemand scherte sich um die Ästhetik der Welt. Aber diese Ideologie von Eigentum und Freiheit war trügerisch.

Denn Eigentum des Einzelnen gab es nicht, höchstens ein Nutzungsrecht. In Wirklichkeit besass Linden alles, was es da am Grid gab. Die wie Pfaue aufgeblasenen Landeigner besassen trotz hohem Geldeinsatz nichts, ihre mühsam zugekauften Identitäten eingeschlossen. Alles besass Linden Lab, alles war nur geborgt, Eigentum war nur eine Schimäre für das Fussvolk auf dem Grid. Virtuelles Eigentum war in der realen Welt nichts, aber schon gar nichts wert ausser man konnte es zu Linden Dollars machen. Doch diese Tatsache hatten die Habenichtse auf dem Grid offenbar verdrängt.

Nicht nur Linden sondern auch smarte Grundstücksspekulanten hatten zugeschlagen. Sie nisteten sich im Nachbargrundstück ein, verbauten mit ihren protzigen Werbebanner den Luftraum und versuchten mit allerlei Tricks, den Nachbarn um sein Grundstück zu bringen. Das war wie im realen Leben. Second Life wurde langsam aber sicher hässlich und gemein.

Trotzdem: Das Motto blieb für Margaux: Land musste her! Ohne genügend Land konnte weder ausreichend gerezzed und insgesamt nicht richtig gebaut werden. Ohne Land konnte man seine Träume von einer, wie auch immer gearteten Zivilisation, nicht in die virtuelle Realität umsetzen. Margaux kaufte im Rahmen ihrer Möglichkeiten, vergrösserte den Besitz, gab ihn wegen der rücksichtslosen Nachbarn entnervt wieder auf. Leider war Margaux auch noch in der naiven Haltung befangen, das Mainland lieben zu wollen. Sie merkte, wie gerne sie auf dem vorgegebenem Terrain einer Landschaft baute, das sie behutsam terraformte und mit liebevoll gestalteten, wenn auch durch ihre hohe Primzahl unpraktisch gewordenen Gebäuden schmückte. Ihr Land begann zu laggen, was ihren verzweifelten Bemühungen einen besonderen Akzent gab. Das Haus am Meer mit angeschlossenem Shop und kleiner Tanzbar war eine Zeitlang ihr kleinbürgerlicher Traum. Sie versuchte, ihn sich mit allen Mitteln zu erfüllen und ächzte unter den exorbitanten Grundstückspreisen. Die Idee, ihre Builds als Skyboxen in der beruhigenden Leere des Himmels zu bauen, fand sie zwar technisch interessant, jedoch zog sie es vor, am Boden zu bleiben. Immer wieder scheiterte sie deshalb an den ästhetischen Verwirrungen des amerikanischen Traums. Eine andere, grosszügige Lösung musste her, jene, die den gordischen Knoten mit einem Streich durchtrennte: der Kauf einer Insel!

Auch andere erwarben Land, jedoch mit völlig anderen Absichten. Nicht um darauf zu bauen und sich selbst zu verwirklichen, sondern um das gemeine Fussvolk (zu dem Margaux sich trotz ihres aufgeplusterten Egos auch zählte), so richtig nach Strich und Faden auszunehmen. Und so stiegen schnell gegründete Immobilienunternehmen ins Geschäft ein, kauften billig, schnell und rücksichtslos und vermieteten scheinbar günstig. Anshe Chung war so eine Lichtgestalt, die binnen kurzem von der deutschen Zockerin zur chinesischen Dollarmillionärin wurde, indem sie mit Hilfe grosszügiger Investoren Land aufkaufte und dann auf ihren Dreamlands wiederverkaufte. Monetarisierung des Grid nannte man den Prozess, den auch die Macher von Second Life sehr begrüssten. Jetzt brachte endlich einmal jemand Ordnung in das Architekturchaos. Auf ihren Sims, die sich kolportierterweise auf mehreren tausend Servern befanden, etablierte Anshe, die von Linden liebevoll als “Regierung von Second Life” bezeichnet wurde, ein rigides System von zonierten Grundstücken, auf denen sie energisch ihre Regeln durchsetzte. Regeln wie im Schrebergarten, das war etwas, was man bei den Lindens vergessen hatte. Deshalb wurde man auch mit dem amerikanischem Alptraum konfrontiert.

Aber auch in diesen zonierten Bereichen wollte Margaux nicht leben und arbeiten: sie waren ihr zu langweilig, zu sehr der spiessbürgerlichen und gottgefälligen Ordnung des US-Imperiums angepasst. Wenn sie sah, mit welch unerbittlicher Konsequenz ganze Regionen in mickrige (und meist flache) Regionen aufgeteilt, mit ein paar wenigen Palmen versehen und vielleicht auch mit einem Billigappartment aufgemotzt wurden, würgte es sie im Hals. Und links und rechts vom eigeneren Grundstück die braven Nachbarn, von denen man nur durch einen schnurgeraden Wassergraben getrennt war! Wenn sie die Regeln der Grundherrschaft durchlas, begann sie zu kotzen. Anshe Chung mochte niemand so richtig: höchstens die Börsenblätter und rechtsliberale Presse, die begeistert mitgingen, wie die Kapitalisierung in die Spielwelt Einzug hielt.

Mit grosser Belustigung Schadenfreude nahm Margaux deshalb die Aktion einiger mit Sicherheit sexistischer Griefer wahr, die bei einer In-World Pressekonferenz der Millionärin fliegende Penisse auf ihren Avatar hatten herabregnen lassen. Nachdem sich Anshes Avatar in höchster Not aus dem Sim teleportiert hatte, crashte auch ihr Fluchtort. Wichtig war: jemand hatte der Prinzessin die Show gestohlen und das war gut so. Und man hatte es ihr endlich gezeigt! Was sie aber nicht aufhielt, weiterhin Geld zu scheffeln. Denn die Braven behielten in Second Liefe immer die Oberhand.

Zum Sterben langweilige bis hässliche Grids war die Folge der verfehlten Landespolitik von Linden Lab. Aber das Geschäft mit dem Land summte. Unsagbar mickrige Prefabs wurden in die Landschaft geklotzt, die frappant an die kleinen Reihenhäuser Floridas erinnerten. Überhaupt schien die Architektur Floridas die architektonische Leitlinie einer ganzen Generation von Avatars geworden zu sein. Amerikanische Spiessbürgerlichkeit zog ein, überall, mit ihr die barocke Geschmacklosigkeit von Neureichen, die ihr tristes reales Leben auf Märchenschlössern in einer Traumwelt zu vergessen suchten. Der Mainstream begann sein Zepter über die virtuellen Welten zu schwingen, gerade als Margaux, angewidert von der Kleinbürgerlichkeit und Geschmacklosigkeit ihrer Umgebung, die kreative Seite an sich entdeckte. Sie war doch Künstlerin, nicht Handwerkerin! Die Schönheit sollte siegen, wenigstens auf ihrem Grid.

Denn Margaux näherte sich einem gewissen handwerklichen Höhepunkt in Second Life: sie wusste nun zu bauen (richtig gut), zu skripten (mässig) und zu terraformen (exzellent). Und sie baute ihre Fähigkeiten kontinuierlich aus, immer wieder unangenehm abgelenkt von den Anforderungen, die das reale Leben an sie stellte. Da waren die Karriere im mittleren Management, die beruflichen Reisen in Europa und nach Asien, anstrengende Beziehungen, zahlreiche Umzüge und gesundheitliche Probleme. Ein Leben halt, jenseits des Perfektionismus eines perfekten Avatars. Ein wenig Alltagsleben gab es deshalb auch in ihrem Zweiten Leben: etwa stammte die Idee zu ihrem französischen Profilnamen von jener Stadt, in dem sie drei Jahre ihres Lebens verbrachte: Paris. Dort war sie virtuell so richtig glücklich, befreit vom Stress der alten Freundschaften und Beziehungen ihrer Heimatstadt, sowie den Verpflichtungen des Alltags. Arbeit, Paris erkunden und Second Life: da liess sie es im Ausland richtig krachen.

Virtuell waren es die Jahre des ersten Booms der Virtuellen Welten, dessen Frontrunner Second Life war. Kari war mit ihnen und entwickelte sich zur Demiurgin. Gerne floh sie auf ihren Grid, wenn ihr das sogenannte reale Leben wieder zu dicht auf den Fersen war. Und sie baute: ein riesiges Einkaufszentrum, zu der sie die ihr bekannten Handwerker einlud, dort ihre Kreationen verkauften; den Nachbau eines bekannten Museums, in dem sie Kunst ausstellte und verkaufte; und schliesslich eine recht perverse und dabei auch im Grunde kindische Pony Girl Farm, in der sie die als Pferdchen verkleidete Bondageopfer ihre Pirouetten drehen liess.

Schuld daran war ihre Bekanntschaft mit Yhis Kohana, ein aus Spanien stammender Avatar. Diese stand eines Tages plötzlich neben ihr. Sie hatte sich in das Einkaufszentrum hinein teleportiert, an dem Margaux gerade arbeitete. Sie sollte Margaux mehr beeinflussen, als sie sich später jemals eingestehen wollte. Das Traumpaar Yhis und Margaux sollte die Welt verändern.

Yhis war ein Avatar mit spanischer Muttersprache und schlechtem Englisch. Dafür war ihr Avatar eine beeindruckende Erscheinung. Sie glich Betty Page bis ins Detail: vom glatten, kunstvoll gefalteten Haar, bis zu den engen Vintage Röcken, den provokanten Blusen und gewagten Latex Anzügen. Margaux’s Vermutung bestätigte sich schon sehr bald: Bondage war tatsächlich der bevorzugte Lebensstil des Betty Page – Avatars. Sie war aus der einschlägigen Szene und switchte elegant zwischen Dominanz und Unterwerfung, ohne dabei Margaux jemals einen Antrag zu machen. Das Gegenüber war eine starke und autarke Frau, fanden sie beide. Aber abseits ihrer unübersehbaren physischen Attraktivität, die Yhis mit einem sehr gemessenen, manchmal auch zurückhaltenden Auftreten betonte, hatte sie auch simtechnisch viel auf dem Kasten. Yhis war eine begnadete Builderin, eine Fähigkeit, mit der sie guten Geschmack und ein hohes Mass an Programmierkenntnissen verband. Ihre Designs waren einfach umwerfend: Spanisches Vintage mit sehr viel tiefbraunem Holz und hoher Detailgenauigkeit. Ein Prim – Fresserin, wie Margaux spöttisch meinte, auch weil sie immer mögliche Kosten im Kopf hin und her wälzte. Yhis schuf sehr verspielte, aber sehr präzis gebaute Builds, die sich um den möglichen Lag nur selten kümmerte. Ihre Kreationen, die sie Margaux nur zögerlich präsentierte, waren einfach umwerfend und hatten das Potential, auf dem von Linden Lab dominierten Market Place der gern geübten Schlampigkeiten zu reüssieren. Yhis war Alles in Einem: Eine originelle Designerin, begnadete Builderin und solide Programmiererin, und das alles auf sehr hohem Niveau. Avatars mit solchen Fertigkeiten waren auf dem Sim eine hoch geschätzte Spielgefährten. Margaux konnte sich auch Jahre danach gut an das Tiny – House im andalusischen Stil erinnern, das Yhis einfach so, aus Jux und Tollerei gebaut hatte. Sie hatte dafür bewusst Masse verwendet, die im Real Life nicht aber auf Second Life Standard waren und damit eine für den Grid kaum bewohnbare Minivilla geschaffen, in denen der Umgang mit der Kamera kaum mehr möglich war. Ein klaustrophobes Haus, auf das sich Margaux nur sehr ungern einliess. Dieser Mut, sich Hals über Kopf auch in unsinniges und nicht zielführendes Terrain vorzuwagen, einfach um des Experiments willen, imponierte Margaux überaus. Margaux roch den Braten sofort: mit Yhis als Partnerin könnte man Grosses schaffen.

Zwischen beiden funkte es augenblicklich, trotzdem unternahmen sie anfangs nur vorsichtig – höfliche Annäherungsversuche, denn überstürzte Vertraulichkeit und distanzloses Pläne – Schmieden erschien beiden unangemessen. Man tastete einander ab, vorsichtig, aber mit grosser Sympathie füreinander. Zu oft waren beide schon von den leicht hingeworfenen Versprechungen der Grid – Grossmäuler getäuscht worden, die sich zunächst aufspielten, dann die Erfüllung der getroffenen mündlichen Vereinbarungen vor sich herschoben und schliesslich, als es immer peinlicher wurde, für immer im Nirvana des Grids verschwanden. Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit im Spiel war nicht gerade die Stärke des durchschnittlichen Residents: zu keinen Zeiten erschien diese Tugend als cool und war deshalb nicht verbreitet. Viele wollten Spielchen treiben aber nur wenige das Spiel wagen. Das Publikum war jung und flüchtig; wie elektronische Schmetterlinge habe es ab, um am nächsten Hindernis aufzuschlagen. Einen verlässlichen Avatar zu finden, mit ihm arbeiten und leben zu dürfen, das war eine Seltenheit und stellte eine ungeheure Chance dar.

Tatsächlich stieg Yhis in der ihr eigenen, charmant-spritzigen Art nach gemessener Zeit in die hochfliegenden Pläne von Margaux ein. Man begann sich zu vertrauen. Man baute gemeinsam an Margaux Einkaufszentrum und befüllte dort Verkaufsautomaten (Vendors) mit den frühen Kreationen von Yhis. Schliesslich begann man, Kreative dazu zu bewegen, ihre Vendors in dem von Margaux aufgebauten Einkaufszentrum einzustellen, ja bot in Einzelfällen sogar freie Plätze an.. Die ersten beiden Wochen waren meist kostenfrei, dann war ein wöchentlicher, vernünftig hohes Entgelt fällig. Diese Idee war nicht nur ein kleiner ökonomischer Erfolg, sondern festigte auch den Zusammenhalt zwischen beiden. Selbstverständlich war Yhis am Erfolg beteiligt, Geiz war nie ein Wesenszug von Margaux gewesen. Das Einkaufszentrum wuchs und bekam eine nicht beabsichtigte aber kaum überraschende Schlagseite: Bondage-Ware.

Es war ein fröhliches Treiben: Yhis und Margaux verbrachten Stunden in ihrem Einkaufszentrum, wehrten eventuelle Griefer mit Bravour und Erfolg ab, sprachen mit Verkäufern und betreuten ihre Kunden. So lernten sie viel über die Szene, auch ihre geheimen, unsichtbaren Mechanismen, über die man nur durch intensive Gespräche und kleine Freundschaften Kenntnis erlangen konnte. Geheimnisse, Phantasien, Obsessionen, Bedürfnisse, Inspirationen: die lagen brach auf dem Grid, mussten nur aufgehoben und bearbeitet werden. Letzendes ging es um die Psychologie der Residents, denen man entsprechen wollte. Während sich die eher pragmatisch orientierte Margaux um das Management ihres Ladens kümmerte, die Vendors optimierte, an den Kosten schraubte und immer neue Verkäufer akquirierte, fungierte Yhis als der kreative Teil ihrer Partnerschaft. Sie führte eine Art Skizzenbuch: auf den Notizkarten in ihrem Viewer hielt sie die Ideen und Pläne fest, die da in ihrer Phantasie wucherten, wenn sie von ihren Streifzügen am Grid zum gemeinsamen Projekt zurückkehrte. Dann verschwand sie wenig später wieder und bastelte auf der Sandbox ihres Vertrauens an ihren eigenwilligen Kreationen. Sie war unabhängig, aber verlässlich.

Ihr gemeinsamer Laden war ein Erfolg: die Investitionen in Land und Ausrüstung begannen sich zu amortisieren und Margaux konnte jedes Monat eine kleine Gewinnbeteiligung an ihre Partnerin ausschütten. Das hob die Laune ungemein und motivierte sie, die nächsten Schritte ohne Zögern zu setzen.

Man war sich also näher gekommen, auch körperlich. Margaux war von der Körperlichkeit ihres Gegenübers angezogen, bis hinein in eine virtuell erotische Dimension, deren es stets an Erfüllung fehlte und die deshalb immer drängender wurde. Eines Tages, als sie wieder einmal gemeinsam Phantasien gewälzt hatten, wie man denn noch grösser und erfolgreicher werden konnte, standen sie sich, nicht nur bedingt durch unkontrollierte Bewegungen des Cursors, wieder einmal besonders nahe, so nahe, dass unwillkürlich die Erotik der Matrix zu knistern begann. Schlicht gesagt: Margaux wäre Yhis gerne an die Wäsche gegangen. Fast riechen konnte sie ihr Gegenüber, die mit leicht geröteten Wangen und zart duftendem Arbeitsaroma vor ihr stand. Das Leder an ihrem Körper duftete. Hirn und Hormone spielten bei Margaux mit einem Male verrückt. Sie drängte sich noch näher an Yhis heran, wollte an ihr Höschen, ihre Hand in ihre Latzhose und zwischen ihre Beine drängen. Sex als Akt des Vertrauens? Privater Bezug einer beruflichen Partnerschaft? Einen Versuch der Unterwerfung wagen? Die Kreative unterjochen, zum beiderseitigen Nutzen?

Wieder einmal all die Missverständnisse. Natürlich hatte Margaux die Karte der Dominanz gespielt und durchblicken lassen, dass man sich auch, auf gleicher Machtebene gefahrenfrei sexuell begegnen könnte. Yhis schreckte zurück: auch sie war eine Domme und konnte trotz aller Sympathien und blühender Zukunftsperspektiven nicht mehr geben, als sie ohnehin schon gab. Und so passierte sie, die zweite Zurückweisung in Margaux kurzem Leben als Avatar: Yhis verweigerte sich dem stürmischen Antrag, entwand sich dem zudringliche Überrumpelungsversuch. Sie tat das charmant, aber sehr bestimmt. Es war wie ein verschmitztes Augenzwinkern: Margaux wisse doch Bescheid! Bis hierher und keinen Schritt weiter, war dann die Folgebotschaft, mit Ernst aber ohne Aggression vorgetragen. Dann wieder Konzilianz: Quasi als Entschädigung bot sie Margaux die Partnerschaft an und übernahm grosszügig den Obolus für Linden Lab, denn sogar für eingetragene Partnerschaften war nun zu zahlen. Dafür stand die Partnerin im Profil des jeweils Anderen: weithin sichtbar für die Neugierigen auf dem Grid. Es war ein Entschluss, den Margaux lange nicht bereuen sollte: sie waren nun ein Paar. Zwar von anderer Qualität als Margaux in ihrer schwachen Stunde angestrebt hatte, aber immerhin sehr wirksam und der Sache förderlich.

Dieses neue Verhältnis zwischen beiden wurde wenige Tage später durch einen gemeinsamen Plan besiegelt. Es war ein wenig wie die berühmte Flucht nach vorwärts. Eine Insel wollte man kaufen, darauf Produkte produzieren und diese im eigenen Laden verkaufen. Margaux würde die finanzielle Belastung zunächst übernehmen und dafür durch Einkünfte aus dem Einkaufszentrum entschädigt werden. Die Insel sollte sich später selber tragen und sie finanziell nicht mehr belasten. Yhis brachte ihr Fähigkeiten ein, die sie durch den Verkauf ihrer Kreationen zu Barem machen wollten. So würde beiden geholfen sein. Das Thema der Insel, die man erwerben wollte, war zunächst unklar, jedoch verhalf der Zufall den beiden zur zündenden Idee.

Eines Tages war in ihrem Einkaufszentrum eine Gruppe von eigenartigen Wesen erschienen. Das waren zwar Menschenavatars, aber mit eigenartigen Accessoires, die sie voller Stolz mit sich herumtrugen: Pferdemähnen, Trensen, Halfter, Stirnriemen, Zaumzeug, Sättel, Schwänze und Hufe – meist in den sanften Farben von Ocker, Pink oder Hellblau gehalten. Die Körper selbst seltsam unruhig, zitternd vor Ungeduld und Erwartung, ständig in Bewegung, man wieherte andauernd und gab zudem auch andere hippoide Laute von sich: ein Scharren, ein Scheuern, ein Schnauben, dazwischen kindisches Gejaule. Das waren kleine Zirkuspferdchen, die da fröhlich und leicht verwirrt durch die Verkaufsräume tobten und höflich, ja ganz unterwürfig sich nach Pony Ausrüstung sich erkundigten. Margaux rieb sich vor Verwunderung die Augen, Yhis war überaus interessiert, neugierig und aufs Äusserste angespannt. In einem Gespräch erfuhr man die doch etwas monströse Neuigkeit über das, was sich diese zierlichen Pferchen eigentlich von Second Life erwarteten: Learning the Ropes! Diese merkwürdige Gruppe war auf der Suche: nach einem Stall, nach Trainingsmöglichkeiten, nach Pony Tack, nach einem zugänglichen aber zugleich strengen Owner, nach einem Leben in Unfreiheit. Yhis hörte verständig zu: durch ihre Erfahrung mit den Verführungen von Bondage Praktiken verstanden sie die Bedürfnisse der fröhlichen Pferchen vor ihnen vollkommen. Da war ein Welle aus dem wirklichen Leben in Second Life herein geschwappt, die als Pony Play bezeichnete wurde, eine Unterart des Pet Play, wie Margaux später nachlesen konnte. Es ging um das Machtgefälle zwischen dem Besitzer und Pony, um den Gehorsam und die Geschicklichkeit der unterwürfigen Avatars, die zum Pony geworden waren. Vorgeführt werden, und das vor möglichst grossem Publikum war die grosse Sehnsucht der Pferchen, die sich auf Farmen und Reitbahnen einfanden, ja sich selbst sogar in Diskotheken vorführen sollten. Auf den weitläufigen Farmen der perversen Besitzer jedoch passte das Vergnügen gut. Es war Narzismus pur, der dort waltete und mit viel Hingabe gepflegt wurde. Und es kam dem spiessbürgerlichen Tendenzen vieler ihrer Besitzer entgegen: denn es ging in letzter Konsequenz nie um den sexuellen Akt selbst. Welche Stallbesitzer hätten von sich sagen wollen, sie hätten ihre Tiere gefickt? Der Reiz lag ganz woanders: in der offen zur schau getragenen Dominanz und dem unbedingten Gehorsam, der den Downern entgegengebracht werden musste, weil es sonst vom Heimatstall verstossen wurden.

Der Reiz, den dieser neuartige Kink auf Yhis und Margaux ausübte, war ein mehrfacher. Ponyfarmen waren gefragte Orte, um Wettbewerbe auszutragen. Sie benötigten Platz und Pflege, sorgfältige Planung und penible Umsetzung. Sie brachten Traffic und erhöhten den Bekanntheitsgrad. Gepflegte Turfs waren gefragt: man sprang ja nicht leichtfertig auf irgendwelchem versifften Gelände herum und machte sich zum Affen! Kombiniert mit mehreren Einstellplätzen, auf dem Frau sich ein paar gehorsame Ponys hielt, und begleitet von einer zugewandten Trainerin war eine Ponyfarm der ideale Ort, um sich in der jungen Community zu platzieren. Ponyplay boomte, genau so wie Second Life es tat.

Wie jeder Fetisch lebte die Zunft vor allem von der Kleidung und der Ausrüstung, die das sublime sexuelle Vergnügen steigerten. Denn es gab nicht nur Show Ponys, Sulky Ponies und Reitpferde, sondern auch Zuchtponies, zu dem sich vor allem die männlichen Avatars angezogen wurden. Rund um die Auftritte dieser ungleichen Paare mit gleichem Interessen wütete eine Materialschlacht an Pony Tack, das einer Kreativen, die Yhis es war, das Herz laut schlagen liess. Was man da wohl alles an Produkten kreieren konnte. Vom Pferdebedarf der Realen Welt auf den Bedarf von Avataren zu schliessen, klang erfolgversprechend, der Gedanke daran begeisterte Yhis. Die Managerin in Margaux wiederum konnte sich den Chancen, die ein solches, wenn auch etwas kindisches Gewerbe, bot, auch nicht entziehen: Eine zukünftige Farm auf dem neuesten Stand der Ponyplay – Technik würde heimatlose Ponys in Massen anziehen und so für einen guten Umsatz in einer Region sorgen. Gleichzeitig schien der Bedarf an geschmackvollem Ponytack mit funktionellem Design sehr gross zu sein, insbesondere dann, wenn er gut geskriptet war. Das war die Marktlücke, auf die beide Frauen nur gewartet hatten.

Wie immer in Second Life ergab Eines das Andere. Da hatte in den frühen Tagen der Wirrungen auf Second Life eine gewisse Marine Kelley begonnen, ihre sexuellen Obsessionen auf die Produktion von Bondage – Waren zu fokussieren. Diese waren nicht nur ganz ordentlich in ihrem Design, sondern Marine begann sie zudem zu skripten und damit mit jenen Funktionen auszustatten, die einem Besitzer viel Macht über die Bewegungsfreiheit über alle Unterwürfigen gab, die diese Ausrüstungsgegenstände trugen. Marine brandete ihre Produkte als eine Marke, die in die Geschichte von Second Life eingehen sollte. Sie nannte sie „Real Restrained“, ein Name und eine Ware, die heute noch existiert. Eine Reihe von Produkten entstand, die den Markt im Sturm eroberten: Halsbänder, Knebel, Hundeleinen, Hand- und Fussfesseln und was man sich als einschlägig veranlagter Lifestyler sonst noch wünschen konnte. Ihr Meisterstück lieferte Marine jedoch, als sie begann, einen Viewer zu entwickeln, der das Bondage – Erlebnis noch wirksamer zu gestalten verhiess: den Restrained Life Viewer. In ihm konnte man bei Bedarf seine Bewegungsfreiheit dem dominanten Part überlassen und wurde so, mit den geeigneten Halsband ausgestattet, zum Pseudo – Eigentum des verehrten Gegenübers, dem man die Macht über seinen Avatar überliess.

Viele fanden diese Innovation mehr als kewl und so setzte sie sich in Windeseile durch auf dem Grid, der stets nach Neuem und Aufregendem dürstete. Die BDSM Szene jubelte und der Konsum der Produkte eilte von einem Höhepunkt zum Anderen. Im Hexenkessel der Eitelkeiten sorgten die Produkte von Marine Kelley aber nicht nur für Zustimmung und Begeisterung, sondern auch für Missgunst und Ablehnung. Offenbar hütete Marine ihre Erfindungen wie ihren Augapfel und liess sich von keinem in die Karten sehen. Der Code ihres Viewer sollte ihr Geheimnis bleiben, über den möglichen Tod ihres Avatars hinaus. Aber das war nur schwer mit den vielen Bugs vereinbar, die die massenhafte Verwendung des Viewer mit sich brachte. Egomanische Heimlichtuerei tat dem Produkt nicht gut. Im Gegenteil, der „Closed Garden“ der Entwicklerin wandte sich sogar gegen die Verbreitung des Clients. Die Anfälligkeit des RLV für Bugs war in aller Munde. Und so atmete die gesamte Community auf, als durch einen Zufall der Quellcode an die Öffentlichkeit gelangte und eine begnadete Skripten namens Kitty Barnett ihren eigenen Viewer entwickelte, dessen Code später als RLVa in den Firestorm – Viewer eingebaut wurde. Damit stand er allen zur Verfügung und man benötigte nur mehr ein ordentlich geskriptetes Stück Ware, um sich in die Obhut einer Herrin oder eines Meisters begeben zu können. Eine Chance, die Yhis für ihre Produktion gerne nutzte. Ein Arsenal an Ponytack verliess wie auf dem Fliessband den Workshop von Yhis Khorana.

Also erwarb man die Insel und benannte sie Brocéliande, nach dem legendären verwunschenen Wald, in dem der Legende nach einst Merlin, König Arthur und die Herrin vom See gewirkt hatten. Es war der mystische Ort des europäischen Mittelalters, dem sich sowohl Yhis als auch Margaux sehr verbunden fühlten. Diese romantische Name sollte eine Art Gegenpol zu den öden Reproduktionen amerikanischer Farmen des mittleren Westen werden, ein europäisches Stück Bauernhof. Man fühlte sich den Welten des Cervantes und König Arthurs ein Stück weit mehr verbunden als der platten Welt Supermans und Robins. Ein Name von der Aussagekraft der Frilly Filly Farm etwa, eine damals schon damals bestehende Ponyplay Farm in Second Life, kam für beide nicht in Frage. Man wollte etwas Besonderes, etwas, das sich auf europäische Traditionen berufen konnte. Schliesslich waren die Kreationen von Yhis der Zeit des Don Quijote nachempfunden.

Maison Brocéliande hiess die Farm nun präzise und so wurde sie auch eingetragen. Manchmal tauchte auch der Name Foret Brocéliande auf und Kari wusste heute nicht mehr, wie es zu der Doppelgleisigkeit der beiden Namen gekommen war. Wie auch immer: auf diesem Stück Land, das ein kleines Vermögen kostete, baute man gemeinsam die neue Farm auf und verkaufte letzten Endes Unmengen von Ponyplay – Ausrüstung. Man veranstaltete rauschende Feste und schillernde Reitwettbewerbe. Man setzte sich in Szene, warb um das neue Stück Land so gut man nur konnte. Der Name machte die Runde und schliesslich war man ein wichtiger Faktor der Ponyplay Szene geworden. Bewusst stellte Margaux ein wenig Überheblichkeit zur Schau, die sie als Teil ihrer Corporate Identity instrumentalisierte. Man stellte sich ein wenig ausserhalb der herrschenden Unkultur und betonte immer wieder, dass man zur Elite des Spiels gehören wollte. Die meisten Beobachter gaben diesem Elitedenken wohl recht, denn der Rennplatz war wunderschön geworden und der Einkaufsladen sehr exquisit. Zum grossen Renner wurden überraschenderweise die (zugegeben etwas grausam aussehenden) Reitsporen, die Yhis erfunden hatte. Sie schafften es mit diesem Produkt trotz eines kleinen Produktionsfehlers sogar bis auf die Titelseiten eines Fashion Zines. Mit ihnen an den Beinen konnten sich die eitlen Owner nun so richtig als die Meister:innen ihrer Ponys oder ihrer Lebensgefährten fühlen. Der Clou an den Reitsporen war, dass sie blinkten und beim daran: sie blitzten und beim Gehen ein leises Klirren von sich gaben. Dieser geniale Eingfall von Yhis fand in der Zeitschrift „Second Life Fetish Fashion“ folgende Würdigung:

„A gift from my favorite pony girl, the characteristic “shling, shling” sound adds just the right touch of Western to pony play. They bling as well as shling.. I don't know how to turn the bling off – soon as I do, I'll let you know. They're lovely, you'll probably want to wear them with your favorite boots.“

Das war eine Aufforderung zum sofortigen Kauf, und tatsächlich: alle kauften, oft auch mehrere Sets, um ihren Freunde zu beglücken. Yhis wurde zum Star von Brocéliande und zum gefragtesten Produzenten von Pony Tack: was sie in einen emotionalen Zwiespalt versetzte: denn langsam aber sicher gingen ihr die entsprechenden Ideen aus.

Die Ponys kamen, die Ponys gingen, einige blieben gerne. Sie nahmen regelmässig an den lokalen Wettbewerben teil und kauften auch gerne in dem hübschen Laden ein, den Yhis mit viel Herzblut eingerichtet hatte. Die Platzhirschen auf Second Life ärgerte man gut und gerne, indem man sich einfach nicht an die Regeln hielt, die sie in aller Selbstherrlichkeit über jedwede Veranstaltung verhängen wollten. Wettbewerbe sollten bestimmten Regeln entsprechen und überall auf dem Grid gültig sein. Eine Art FIFA für Ponyplay sollte ihrer Ansicht nach entstehen, mit all den unappetitlichen Begleiterscheinungen im Marschgepäck. Vereinheitlichung und Standardisierung eine Art getarnte Strategie, um die Herrschaft über Neuankömmlinge auszuüben. Die Standards der grossen Ställe sollten die Standards aller werden und damit die Dominanz der Trendsetter absichern. Dagegen wehrten sich Margaux und Yhis mit all ihrer Kraft: ästhetisch, spieltechnisch und in ihrem Verhalten den Ponies gegenüber. Avatars zu brechen und sie so in eine stummes und gefügige Viehherde einzugliedern, wie dies gerne auch in die Profile einiger Ställe eingetragen wurde, war ihr Ding nicht. Lieber förderte man auf Brocéliande seine Pferdchen, motivierte sie und stattete sie mit schönen Kleidungsstücken und ausgeklügeltsten Accessoires Marke Yhis aus. Brocéliande war so auf dem Grid bald ein exotisches Ärgernis aus Europa, das die Regeln bewusst und ohne schlechtes Gewissen brach und die Grenzen zwischen Pony und Owner verschoben. Die Besitzerinnen Frilly, Filly Farm, ein Platzhirsch der Szene bis heute, schäumten. Sie ärgerten sich Grün und Blau über die anmassenden „Neuen“, die sich um ihre Regelwerk kaum kümmerten und trotzdem von Woche zu Woche an Bekanntheitsgrad dazu gewannen. Konflikte entlang der Rennbahnen waren vorprogrammiert. Auf zwei Farmen erhielten Yhis und Margaux sogar Platzverbot.

Was war das für ein Aufschrei, als eine der Besitzerinnen von Brocéliande in voller Ponygirl – Montur auf dem Platz der FFF erschien, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Ein Owner gab ein Ponygirl, anstatt genüsslich am Rande der Rennbahn zu stehen und geschmäcklerische Urteile über die Ponies abzugeben. Yhis war so frei, wollte sie doch ihre eigenen Produkte unter Wettbewerbsbedingungen ausprobieren und damit auch ein wenig zu provozieren. Seht her, wir von Brocéliande sind ganz anders! Bevor die anwesenden Wettkampfleiter einschreiten konnten, sprang das Pferd in Lack und Leder schon auf dem Turf hinaus, mit wippenden Kopfschmuck, Ledergamaschen, glänzendem Geschirr und laut klirrenden Hufen. Nicht, dass sie den Wettbewerb gewonnen hätte, aber das war in dieser Situation gar nicht notwendig. Alle Augen waren auf Yhis gerichtet, auf dieses prächtige, vor Kraft und Stil vibrierende Wesen, das die Fahne von Maison Brocéliande vor sich hertrug. Sie galoppierte unbeschadet als Dritte durch das Ziel, fühlte, wie die Augen aller auf sie gerichtet war, wieherte aus voller Kraft und war im nächsten Augenblick verschwunden. Teleportiert auf ihre private Sandbox, die ihr Margaux in 3000 Meter Höhe auf Brocéliande eingerichtet hatte. Dort wertete sie ihren Lauf aus, und schraubte an dem heimlich bei ihrem Lauf mitgeführten Jump – O – Meter weiter. Der Test war erfolgreich und sein virtuelles Gegenstück wurde sogleich auf dem heimatlichen Rennplatz installiert. Wieder eine Erfindung, die sich bewähren sollte: Ab nun konnte man die Geschwindigkeit des Rennpferdes einfacher messen als bisher.

Auch Margaux tat das ihre, um das Establishment der Pet Player zu verärgern. Auch sie verwischte die Grenzen zwischen Dominanten und Unterwürfigen. Eines Tages hatte sie ein etwas derangiertes Pony am Rande ihrer Reitbahn aufgefunden und nach dessen kläglichem Flehen, es in den heimatlichen Stall aufgenommen. Schluchzend hatte der Avatar davon erzählt, wie er von Farm zu Farm gewandert war, nur um kommentarlos abgewiesen zu werden. Kari hatte den Namen dieses bedauernswerten Geschöpfes leider vergessen, welches offenbar im realen Leben an schwerer Dyslexie litt und mit dem man daher nur sehr schwer schriftlich kommunizieren konnte. Zudem war auch seine Motorik nicht koordiniert, sodass es manchmal wie verwirrt durch die Gegend galoppierte oder eben lange Zeit gar nichts tat. Das Pony war unberechenbar, nicht zu disziplinieren und von der Naivität einer Unbedarften. Dennoch war sie committed, wie man so schön sagte und loyal wie niemand sonst auf dem Grid. Sie störte überall, nur nicht auf Brocéliande. Dort genoss sie ihr Leben, toleriert von den Besitzern, die ihr immer zuhörten und meist zu entschlüsseln wussten, was das Wesen zu sagen hatte. Und man ermöglichten ihr, mit den anderen Ponies von Brocéliande zu trainieren, was viele nicht verstehen wollten. Dennoch trug auch dieser Aussenseiter sehr zum Stil von Brocéliande bei.

Viele kamen nach Brocéliande, um sich umzusehen. Manche waren begeistert, blieben, bewarben sich um einen Platz im Stall, was ihnen sehr gerne gewährt wurde. Eines hatten die beiden Betzerinnen freilich ausser Acht gelassen: dass die Pferchen des eigenen Stalles natürlich, wie viele anderen Devoten in Second Life auch, unaufhörlich nach Aufmerksamkeit gierten. Yhis überforderte dies, war sie doch mit ihrer schöpferischen Kraft und dem ihr eigenen spanischen Temperament, auf andere Dinge fokussiert als ständig für Andere da zu sein. Auch Margaux kam das eingeforderte Training nicht gerade entgegen. Überhaupt fand sie die ihr anvertrauten Ponys zu kindisch, um sich mit ihnen abzugeben. Auch die ständig vor sich hergetragene Eitelkeit der Schaupferdchen aller Provenienz fand sie unerträglich. Sie interessierte allein das Geschäftsmodell, welches sie auf Brocéliande entwickelt hatten und arbeitete ständig an dessen Optimierung. Der Pflege von Narzissmus geplagten Ponies wollte sie beileibe keine Aufmerksamkeit schenken.

Die Lage wurde allmählich prekär: so viele Ponies, die nach Aufmerksamkeit dürsteten und die sich nach erfolglosem Werben enttäuscht von der Farm abwandten, um sich eine neue Heimat zu suchen. Lange würden sie diesen Pony Drain nicht mehr durchhalten können und natürlich würde ihre Respektabilität darunter leiden. Man musste sich dringend nach Trainern umsehen, die bereit waren, diese Aufgabe freiwillig und mit Hingabe zu verrichten.

Überraschenderweise brachte die von den Erfordernissen des Tages etwas abgehobene Yhis die Lösung mit nach Hause, in Gestalt eines adretten deutschen Avatars mit dem Namen Claudia Svendsen. Diese war dem Ponyplay zugetan und durchaus motiviert, als man ihr den Posten einer Cheftrainerin anbot. Man versicherte ihr, dass sie, wenn sie entsprach, weitgehende Kompetenzen und Verantwortung würde übernehmen können, vielleicht eines Tages auch zur Miteigentümerin von Brocéliande würde avancieren können. Und tatsächlich, dies ist bis heute im Profil von Claudia Svendsen zu lesen. Trainerin, Mit-Eigentümerin und Pony von Brocéliande. Während das von Margaux aufgenommene, leicht verrückte Pony nicht gerade hilfreich für systematische Arbeiten auf Brocéliande war, erwies sich Claudia als wichtige und notwendige Bereicherung. Sie hatte bestimmte Vorstellungen für die Verbesserung der Rennbahn, die von Margaux provisorisch gebaut worden war, leitete die Pferderennen und kümmerte sich liebevoll um die ihr anvertrauten Ponies. Sie war wie diese eine nach Aufmerksam gierender devoter Avatar.

Der Besucherstrom von und nach Brocéliande stabilisierte sich. Claudia war ständig zugegen und ging neben ihren eigentlichen Aufgaben Margaux auch zur Hand, wenn Not an der Frau war. Sie gehörte weniger zu den kreativen Charakteren auf Second Life, war aber, zufrieden mit der Verantwortung, die man ihr übertrug. Regelmässig stand sie an den Wochenenden auf ihrer Farm und kümmerte sich um das Schnauben und Traben der freudig erregten Pferchen, die unruhig in ihren Ställen auf sie warteten. Während Yhis weiterhin unter Hochdruck an ihrer Produktion arbeitete, entspannte sich das Leben für Margaux nun deutlich. Sie konnte sich dem weiteren Ausbau ihrer Insel widmen und Vieles vorantreiben. Rund um einen See ordnete sich die Infrastruktur an: ein Landungsplatz aus Holz, den Yhis nachträglich mit einem wunderschön gesprinteten Brunnen versah; den Pferderennplatz mit integriertem Tachometer, die hölzernen Stallgebäude mit den wunderschönen, altertümlichen Zäunen und schliesslich das gemütliche aber sehr funktionale Einkaufszentrum. Gemütliche Wege zwischendrin mit Ruhebänken, eine massvolle Begrünung mit dem Besten, was die Jahre 2007 und 2008 in Second Life zu bieten hatte. Über allem schwebte auf dem Dach des Einkaufszentrums das Logo der Mason Brocéliande, ein überdimensionales MB, das von einem goldenen Hufeisen umrahmt war und sich langsam um die eigene Achse drehte. Das alles war schön, sehr schön sogar und erfüllte Margaux mit der stillen Befriedigung, es endlich auf dem Grid geschafft zu haben.

Aber wie immer, wenn dMargaux in ihrem Leben Dinge erreicht zu haben schien, machte sich in ihr eine gewisse Unruhe breit. Mit der Zeit fand sie das Pony – Getue mit seinem kleinbürgerlichen Philistertum unerträglich. Es war verlogen, in dem es Sex zwischen Owner und Pferdchen tabuisierte, gleichzeitig aber ein erotisiertes Machtspiel allererster Güte inszenierte. Es war kindisch, weil Avatars bis ins Unerträgliche verniedlicht wurden. Es war unanständig, weil Menschen dehumanisiert wurden. Es war, schlicht und ergreifend, zum Kotzen. Da hätte sie sich wohl lieber mit der Rolle einer Bordellmutter abfinden wollen als mit der Verlogenheit einer Stallbesitzerin. Was also war auf dem Grid noch zu tun? Die Idee von Claudia, auf dem Gelände von Brocéliande einen Nachtklub einzurichten, erschien ihr attraktiv, wenngleich mit der Corporate Identity einer Farm nicht gut vereinbar. Aber vielleicht konnte man sich so ein Stück weit wegbewegen vom Image eines Ponyplay – Grids. Einen Versuch war es jedenfalls wert.

Es schien, dass sich auch Yhis mit dem Status Quo einer gut laufenden Ponyfarm nicht abfinden wollte. Ihre Ideen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Pferdeausrüstung schienen langsam aber sicher zu versiegen. Für den Bau eines Nachtklubs war sie allerdings nur schwer zu begeistern. Statt dessen widmete sie sich dem Aufbau einer Zirkuswelt, die sie in einer verschwiegenen Inselecke vornahm. Ein wundersamer, mit Bondage – Elementen versehener Zirkus sollte es werden, der die Welt in Erstaunen versetzte. Margaux willigte ein: vielleicht würde das die Schaffenskraft der Künstlerin Yhis wieder auf Touren bringen. Sie selbst würde sich gemeinsam mit Claudia um den Nachtklub kümmern.

Kari erinnerte sich nicht mehr genau, was damals in weiterer Folge geschah. Ein Schleier des Vergessens schien über die Ereignisse gebreitet. Das verärgerte sie, weil sie wusste, wie sehr sie die Sache mit Broceliande emotional noch immer beschäftigte. Was hatte sie verdrängt, was war es eigentlich gewesen, was zum grossen Krach des Jahres 2008 geführt hatte? Also beschloss Kari, wieder an den Ort ihres grössten Erfolgs und ihrer grössten Niederlage zurückzukehren. Nach Jahren des Verdrängens hatte sie mit einem Male die alte Begeisterung für Broceliande wie eine Krankheit erfasst. Sie loggte sich ein in Second Life und suchte nach dem Ort Broceliande.

Kari ist beruhigt, als sie das Profil von Brocéliande findet, fast 15 Jahre nach dessen Gründung. Stolz prangt das Logo MB in der Vogelperspektive des Grid, schon beim blossen Ansehen ruft es die Befindlichkeit von früher auf den Plan: Stolz und Zufriedenheit. Die Besitzerin ist noch immer Claudia Svendsen, auch darüber ist Kari erleichtert: Claudia Svendsen hat die Insel bis heute bewahrt. Das 15 Jahre Besitz in Second Life, eine halbe Ewigkeit. Auch finanziell ist das eine grosse Belastung.

Kari teleportiert und erlebt an ihrem Ziel die erste Überraschung. Sie bleibt mehrere Meter über dem Landungspunkt in der Luft hängen und kann sich aus dieser Lage nicht mehr befreien. Erst mit einem kleinen Trick landet sie auf der nahen Sitzbank des Landungsareals. Aber ausser diesem technischen Defekt scheint noch alles zu sein wie damals. Der Landeplatz ist aus Holz, der mittig angelegte Hochstrahlbrunnen ergiesst seine Fontänen in vier Steinbassins. Dazwischen Holzbänke und eine Teleportiert-Station mit drei Destinationen: Club Siren’s Song, Brocéliande Stables und Ballon Ride. Kari kann nicht widerstehen und teleportiert sich zum Nachtklub, der sich damals tief unten im Meer befunden hat. Den Namen hatte sie inzwischen vergessen. An die Räumlichkeiten kann sie sich noch sehr gut erinnern: An den Zugang mit den stählernen Schleusen, den Barbereich mit einem riesigen Aquarium, in dem auch ein riesiger Hai schwamm, die 4 Separees, die für ein ungestörtes Zusammensein gedacht und thematisch ausgerichtet waren. Der Bau war ein gemeinsames Werk gewesen, Claudia hatte sich da sehr ins Zeug gelegt, und eine Unmenge von Ideen dafür eingebracht.

Als Kari am Eingangstor landete, versank sie sogleich in einer wüstenhaften Leere und Unordnung. Man konnte zwar deutlich sehen, dass hier so etwas wie ein Club gewesen war, allerdings waren fast alle Gebäudestrukturen entfernt worden, sodass nur mehr die nackten Felswände zu sehen waren. Alles Landmasse, die hauptsächlich aus Lücken bestand. Die Bar war fast restlos zerstört. Nur da und dort waren Reste zurückgelassen worden; Türen und Tapeten standen unmotiviert in der Baugrube herum, ebenso wie immer noch funktionierende Informationsständer, die etwa Notizkarten wie diese freigaben:

***CLUB SIRENE’S SONG: FRENCH ROOM*** Costs (special offer until May 31, 2007): Touch the door and pay LS 100.– per person for 30 minutes stay. Each person who uses the room has to pay separately. Intruders without ticket will be automatically ejected and banned. After 30 minutes the door will open automatically after a warning. Guests who wish to leave the room earlier, right click the exit button inside the room. They will be teleported to the entrance of the club. Equipment: SexGen bed Platinum v4.01 with 100 animations (categories: Fetish, BDSM, Girl/Girl, Threesome, Foursome, Cyber, Cuddles, Boy/Girl ).

Auch die Notizkarte eines anderen Separee konnte Kari noch finden. Es trug den Namen Back Alley und war mit ähnlichen Angaben versehen. Kari sah sich weiter um. Da hatte jemand alle Wände der Bar entfernt und so eine tiefe Baugrube entstehen lassen. Die Bar selbst war noch vorhanden, auch das Logo aus Neonlampen zeugte vom ehemaligen Charme des Ortes. Einige Leitern, die einst auf unterschiedliche Etagen geführt hatten, standen auch noch. Jetzt führten sie ins Leere. Kari war schockiert über den Grad an Zerstörung, der hier gewütet hatte. Wer hatte sich hier so nach Herzenslust ausgetobt? Warum war das Werk der Zerstörung nicht beendet worden und man hatte hier eine Ruine hinterlassen? Das konnte man doch auf einem Sim, das noch immer halbwegs gut besucht war, doch nicht tun? Kari erinnerte sich: Claudia war immer etwas nachlässig gewesen, eine Person, die sich immer sehr auf sich selbst konzentriert und wenig für ihre Umwelt übrig gehabt hatte. Aber diese Gebäuderuine derart schamlos stehen zu lassen, ging nun doch nicht. Schliesslich hatte man den Ort immer noch als Destination in der zentralen Teleportiert Station angeführt. Erschreckend, dieser Lost Place, aus dem sich Kari nach minutenlangem, entsetzten Herumwandern heraus teleportierte. Der Ort erinnerte sie zu sehr an Bilder vom Krieg zerstörter Häuser und deprimierte sie tief.

Kari war zunehmend irritiert, fand sie doch beim folgenden Herumstreifen auf der Insel weitere Zeichen von Vernachlässigung. Es kam ihr vor, als wäre sie auf einem Lost Place gelandet, in dem einzelne Teile zwar gut in Schuss waren und benutzt werden konnten, andere aber rücksichtslos dem Untergang preisgegeben waren. Der Rennplatz etwa war gut in Schuss. Dort traf sie auf eine Gruppe von Ponys mit ihrer Besitzerin, die sich offenbar zum Training zurechtmachten: gesprächig waren die allerdings nicht, offenbar ein Zug der Zeit. Kari ging vom Trainingsgelände zum See hinunter und fand dort die schöne Gartenlandschaft von damals vor: nichts hatte sich hier verändert, ausser dass die Gehwege im Mesh Bauweise ausgelegt worden waren.

Sogar die alte Haltestelle für den Pod gab es noch, den Margaux einst angelegt hatte, um den Besuchern eine Gelegenheit für einen Inselrundflug zu geben. Yhis hatte damals einen Heissluftballon bauen wollen, der einzigartig werden sollte. Weil aber die Künstlerin bereits in so vielen Projekten steckte, hatte Margaux, die nie etwas auf die lange Bank schieben wollte, vorgeschlagen den vom Market Place mitgelieferten Pod zu nutzen. Dieser stand noch immer auf einer Plattform, offenbar voll funktionsfähig. Auch die Fluganzeige funktionierte tadellos: immerhin hatte seit der Fertigstellung der Station im Sommer 2007 3327 Residents den Flug genommen. Das brachte Kari auf die Idee, in der Gruppe nachzusehen, die der Insel gewidmet war, und in die man eintreten musste, um die Pferdesportanlagen zu nutzen: auch dieses Zahlen sprachen davon, dass die Insel bis heute besucht wurde – nicht gerade die Zahlen der Frilly Filly Farm, aber immerhin weit über 300 Besucher. Die Insel wurde also offenbar noch immer besucht, war offensichtlich bloss gröblich vernachlässigt. Kari ertappte sich dabei, dass sie im Kopf einen vorsichtigen Renovierungsplan für Brocéliande entwarf: Fehler ausbessern, Irreführendes beseitigen, verwahrloste Gebäude revitalisieren, ein wenig abstauben und aufräumen, wieder Werbung. Den inneren Zusammenhang der Inselelemente logischer gestalten, wäre die oberste Prämisse. Der Charakter der Insel sollte erhalten bleiben. Man müsste mit Claudia sprechen, die sich dem Vorschlag mittelfristig sicherlich nicht entziehen würde. Natürlich wäre zu verschweigen, dass man die frühere Margaux Lapointe war. Vielleicht irgend etwas mit „alte Denkmäler auf Second Life“ vorbringen, nachdem man sich einen gewissen Grad an Vertrauen bei der Inselbesitzerin erschlichen hatte. Aber halt: Frau sollte sich lieber doch nicht gleich in der Vergangenheit festfahren. Lieber Distanz bewahren und die aktuellen Projekte von Kari zügig aber konzentriert weiterentwickeln. Vielleicht war es wirklich besser, mit dem alten Build abzuschliessen und sich auf künftige Projekte zu konzentrieren.

Schnell entschlossen und auch fluchtartig kletterte Kari also in den Pod und schloss mit ihren sentimentalen Vorstellungen ab. Sie würde sich nun aufs Fliegen konzentrieren.

Der Pod war ein typisches Produkt aus den Anfangszeiten von Second Life, eine Art halbe Eischale, die metallisch glänzte und mit zwei Pose Balls ausgestattet war. Erfreut stellte Kari Fest, dass das Modell noch immer auf dem Marktplatz existierte und der Builder Blaise Timtam offenbar noch immer tätig war. Langsam setzte sich der in Bewegung. Kari war nun voller Erwartung und hing schon bald anderen Gedanken nach. Mit einem Male begann der Ballon in Local Chat zu flüstern:

[08:27] Ballon: „Willkommen bei der Tour rund um Brocéliande. Bitte benütz deine Kamera, um den Flug in allen seinen Dimensionen geniessen zu können. Hier handelt es sich um einen Testflug. Das Vehikel, in dem du reist, wird schon bald durch einen wunderschönen Heissluftballon ersetzt werden.“

Langsam erhoben sie sich über die Insel. Sie konnte sich wieder an die Ansage des Ballons erinnern, die sie einst selbst geschrieben hatte. Jetzt bedauerte sie, das Versprechen vom Heissluftballon gegeben zu haben. 15 Jahre waren vergangen und es gab noch immer keinen. Yhis war damals zu sehr mit dem Bau ihres Zirkus beschäftigt gewesen und hatte dann in weiterer Folge auf das Versprechen vergessen, dass sie Margaux gegeben hatte. Und jetzt schien Margaux verschwunden zu sein. Ihr Profil hatte Kari zwar in der Viewer Suche gefunden, nichts aber schien darauf hinzudeuten, dass sie hier regelmässig vorbeischaute: da wären die Dinger sicher besser in Schuss geblieben: dafür war sie Perfektionistin genug. Und vielleicht gäbe es ihn dann doch, diesen Heissluftballon?

[08:28] Ballon: Brocéliande wurde 2007 von vier sehr bösen Mädchen gegründet: AHYM (Adriana, Hannah, Yhis und Margaux). Claudia ist später dazugekommen.

Ja, auch an diesen Satz konnte sich Kari fragmentarisch erinnern, mehr noch an den Stolz, mit den sie ihn niederschrieb und damit den Gründungsmythos anlegte. Das es aber 4 Personen gewesen sein sollten, daran konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Offenbar erinnerte sie sich an zwei der Gründungsmitglieder überhaupt nicht mehr. Wer um aller Welt war Adriana, wer war Hannah gewesen? Und warum das Akronym? Sie beschloss, später im Gruppenprofil nachzusehen. Plötzlich tauchte der name Adriana im Local Chat nochmals auf:

[08:28] Ballon: Unsere erste Station ist das Nest einer Elster. Adriana Akropolis lebt hier und wacht über die Insel.

Ja, genau! Nun begann sie sich zu erinnern. Eines Tages war Margaux von einem Ausflug auf ein Sim zurückgekehrt, in dem wunderbare Tier-Avatars verkauft wurden. Die Firma hiess Grendel’s Children, war 2006 gegründet worden und damals weithin bekannt. Staunend war Margaux durch die Lager der Kreativen geschlichen, um sich an diesem Reichtum an Einfallsreichtum und Können zu berauschen. Schon hatte sie sich überlegt, ab nun wieder ihren Avatar zu wechseln, um in die Rolle eines Tieres zu schlüpfen – verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dem Gefieder einer menschengrossen Elster konnte sie jedoch nicht widerstehen. Sie lud sich die Box vom Vendor und begab sich zur nächsten Sandbox. Dort reizte sie und legte Schritt für Schritt die vielen Attachments an, bis sie sich in dieses wunderschöne Rabenvieh verwandelt hatte. Mit dem Ergebnis ihrer Verwandlung war sie sehr zufrieden. Sie würde nun „heimfliegen“ nach Brocéliande und dort alle gerade Anwesenden mit ihrer Erscheinung überraschen. Adriana Akropolis war geboren. Sie würde über die Insel wachen, sie war der Spiritus Rector des Unternehmens. Ausgestattet mit dem mythologischen Hintergrund der Raben, im schwarz-weissen Gefieder der Elster krächzend über die Insel schweben und ein Auge auf das Treiben unter ihr werfen – das schien die Rolle zu sein, den ein Vogel namens Adriana Akropolis gut einnehmen könnte. Ein freundlicher, aber auch ein unheimlicher Wächter. Yhis war naturgemäss verwirrt über so viel archaischer Besessenheit von Margaux, die nun auch den Luftraum zu beherrschen schien. Claudia hatte dazu keine spezielle Meinung, wie sie immer schon wenig Meinung zu haben schien und sich lieber den Verhältnissen anzupassen pflegte, als sich zu exponieren und diese zu gestalten.

Hier, im Pod erinnerte sich Kari wieder an das alles. Allerdings fehlte vom Nest der Adriana jede Spur. Wieder liess die Erinnerung Kari in Stich. Hatte sie je dieses Nest je gebaut? War dieses Nest nachträglich von der neuen Besitzerin entfernt worden? Und wie hatte es ausgesehen?

Aber nochmals: Hannah? Wer war Hannah? Irgendetwas klingelte im Hirn von Kari als sie so friedlich dasass in ihrem Pod und im Luftraum über der Insel dahinglitt. Im Profil der Brocéliande Gruppe fand sie keinen Hannah – Avatar Hannah bei deren Nachnamen etwas in ihr geklingelt hatte, ausser vielleicht eine Hannah Ah, die vom Alter her passen konnte. Die hatte aber keinerlei Texte oder Bilder auf ihrem Profil hinterlassen, denen Kari hätte nachgehen konnte. Hannah, in welchen Winkel des Gedächtnisses war sie entglitten? Aber die Reise in die Vergangenheit ging weiter und die Erinnerungsmuster waren von der Bahn des Pods vorgegeben.

[08:28] Ballon: Auf der linken Seite des Berges siehst du nun den Zirkus von Yhis Khorana. Das ist ein Zirkus in dem Ponys eine neue Art von Bewegung voller Eleganz erproben können. Möchtest du ihn besuchen? Dann erheb dich und lasse dich zu ihm hinunterfallen.

Der Pod neigte sich nach links, der Pod neigte sich nach rechts, so als ob er deren Passagiere über dem Zirkus gerne hätte loswerden wollen. Das hatte Margaux offenbar als Hommage an das Künstlergenie von Yhis Khorana so programmiert. Denn der Zirkus war wirklich eine Pracht, gerade auch für die Verhältnisse vor der Einführung von Mesh. Sogar eine Gruppe war dem Zirkus auf Brocéliande gewidmet, allerdings mit mässigem Zuspruch. Nur etwa neun Mitglieder hatten sich als Elevinnen des Zirkus registrieren lassen. Was sie aber genau dort machten, entzog sich Kari Kenntnis. So schön die Bauten auch waren: das Zirkuszelt, die Zigeunerwagen davor, die Tierkäfige, das Hochseil zwischen den beiden Podesten – ein Erfolg war er nicht, konnte es auch nicht werden: zu wenig attraktiv war offenbar das damit verbundene Abenteuer. Er war ein blosses Zitat aus einer einer anderen Welt, in der der Zirkus immer noch auf einen kontinuierlichen Zustrom von Besuchern zählen kann. Hier war es nur ein Zitat, mehr leider nicht. Wenn der Bau des Zirkusareals aber eines bewirkt hatte, dann war es die Aufmerksamkeit von Yhis von dem eigentlichen Sinn und Unsinn von Brocéliande abzulenken. Es war, wenn es Kari richtig bedachte, der Anfang vom Ende ihrer einst so guten Zusammenarbeit. Yhis war für Tage, ja sogar für Wochen nicht mehr ansprechbar, ständig auf ihrer Sandbox wo sie ihre Build torstrukturierte und dann auf die Insel brachte, um ihnen den letzten Schliff zu geben. Und sie hatte ihn geschafft: ein wunderschönes Areal war entstanden, das jedoch kaum jemand zu nutzen schien.

[08:29] Ballon: Wer nähern uns jetzt dem Ponyplay – Gelände. Du kannst die Ställe, die Slalom Anlage und den Sammelplatz für Besucher sehen, weiters ein geskriptetes Sprunggelände und einen Reitparkour.

Jetzt waren sie beim Herzstück der Insel angelangt. Als es Kari überflog, standen sogar eine Gruppe von Ponys standen in der Nähe der Reitbahn, offenbar kurz vor oder nach dem Training. Kari lächelte. Alles war mit einem Male so, wie es früher gewesen war: friedlich, voll Optimismus, unbeschädigt. Ein belebtes Gelände, wie schön! Gemeinsam hatten Yhis und Margaux an dieser ausgedehnten Anlage gearbeitet und Claudia hatte hier die Ponys ihres Stalles trainiert. Auch Rennen hatte es zahlreiche gegeben, die Besucher hatten stets die Zeitabnahme am Parcours bewundert. Mit dem freien Auge konnte sie Hindernisse erkennen, die sie selbst gebaut hatte und jene, welche Yhis beigesteuert und verbessert hatte. Kari wandte sich ab, dem Spieler hinter ihrem Avatar hatte so etwas wie die Rührung gepackt und voller Sentimentalität liess er die Kamera über das Gelände schweifen. Sentimentalität, schon wieder, aber die Reise erlaubte kein allzu langes Verweilen und damit auch kein Vergehen in Selbstmitleid.

[08:29] Ballon: Wir bewegen uns jetzt auf die Westküste zu. Zu deiner Rechten befindet sich der Einkaufsbereich mit dem Ponygirl – Laden.

Der Laden war nicht mehr wieder zu erkennen. Es war jetzt zweistöckig mit einer Art offenem Dach, im Obergeschoss die Waren von Yhis, im Untergeschoss, nur schwer frei zugänglich die Waren anderer Pony-Tack Erzeuger. So kannte man direkt in das Reich von Yhis Khorana einfliegen. Sich nach den Waren im Untergeschoss zu sehen, darauf vergass man wahrscheinlich. Kari fand eine derartige Verkaufstaktik, und um eine solche musste es sich handeln, Brocéliande nicht würdig. Sie waren immer davon ausgegangen die beste Qualität zu einem sehr guten Preis zu verkaufen. Das war die gemeinsame Linie gewesen. Warum sich diese so drastisch geändert hatte, warum man inzwischen so unsicher geworden war, darüber konnte Kari nur spekulieren

[08:30] Ballon: An der Rückseite des Gebäudes befindet sich die Terrasse mit dem Haupteingang zum Unterwasserklub mit dem Namen „Siren’s Song“.

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[08:30] Ballon: An dieser Stelle herzlichen Dank an alle, die geholfen haben, diese Insel zu entwickeln, insbesondere den Kunden und Händlern von Maison Brocéliande.

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[08:30] Ballon: Wir erreichen nun das Unterseeboot, eine Fetisch-Überraschung. Und am Horizont seht ihr den privaten Bereich der Besitzerinnen.

Ach ja, das Submarine. Ein riesiges Teil, das hier an der Küstenlinie angedockt war und das ihren Reiz durch die interessante Textur und die altmodische Bauweise ausstrahlte. Es war leer, offenbar dafür gedacht, ein geheimes Laster von Margaux zu beherbergen. Die Räume dementsprechend auszustatten, dazu war sie aber nie gekommen. Es fiel Kari nun plötzlich wie Schuppen von den Augen: die plötzliche Flucht von Margaux, weg von dieser Insel, die eigentlich ihr Lebenswerk hätte sein sollen, schlug sich auch im Zustand der Bauten nieder. Da waren der halbfertige Pod, die irreführenden Teleport – Ziele, geräumte oder abgerissene Gebäude, ein noch immer leerstehendes Submarine. Diese Ruinen der eigenen Geschichte konnte man sich eigentlich nur auf mehrere Weisen erklären. Entweder die Insel war einfach von Claudia emotional in Stich gelassen worden, wogegen die hohen monatlichen Kosten, die immerhin über einen Zeitraum zu zahlen waren, und die Lange Mietzeit sprachen. Für etwas, was einen nicht interessierte, zahlte man doch nicht jahrelang eine hohe Miete. Oder es war einfach nicht gelungen, all jene Gegenstände, die aus der Bautätigkeit von Margaux stammten, einfach von der Insel zu entfernen: wogegen aber die Tatsache sprach, dass Margaux die Insel ordnungsgemäss übergeben hatte mit allen Rechten und Berechtigungen. Drittens: man hatte immer darauf gewartet, dass Margaux nach dem Eklat zwischen ihnen eines Tages zurückkehren würde. Aber auch dafür sprach nicht das Geringste. So blieben die Gründe für den gegenwärtigen Zustand der Insel ein Rätsel. Sie hätte mit Claudia sprechen können, wenn die überhaupt jemals online ging, aber das ging nicht. Auch Yhis war eine Möglichkeit. Das wollte Kari aber auch nicht.

[08:30] Ballon: Wir begeben uns nun auf eine Höhe 660 Metern. Das ist ein langer Flug. Bitte zieh dir warme Kleider an und berühre auf keinen Fall den Knopf zum Aufstehen.

So ein betuliches Gerede, schimpfte Kari, wenn sie ihren Text an dieser Stelle genauer las. Sowohl die Anspielung an die Kälte als auch jene an die Höhe des Raumes waren Reminiszenzen an das First Life, die hier auf dem Sim gar keinen Sinn machten. Auch waren sie viel zu fürsorglich, ja zutraulich, besonders für die heutigen Zeiten, in denen die Avatars nicht einmal zu grüssten, wenn man ihnen begegnete. Im Gegenteil: man musste sogar ausweichen, um nicht überrannt zu werden.

Ansonsten gestaltet sich der Aufstieg auf 600 Metern unerträglich langsam, die Möglichkeit zu einem Dialog mit den Reisenden war nicht genutzt worden. Im Gegenteil, wie wenigen Kommentare waren voll von Redundanz:

[08:31] Wir erreichen nun bald die erste Station unseres Aufstiegs. Wir bewegen uns hinauf zu einer Kunstgalerie hoch im Himmel.

[08:33] Ballon: Wir nähern uns nun der Galerie von Chantal Munro. Chantal würde sich glücklich schätzen, wenn du ihre Kunst besichtigen würdest.

Das war nun etwas, was Kari wirklich vergessen hatte: die Galerie der Chantal Munro. Ihr war sie eines Tages auf der Insel begegnet und hatte sie als eine kunstverständigen und ehrgeizigen Avatar erlebt. Trotzdem passierte etwas, was für Second Life so typisch war und ist: man verständigte sich nach mehreren Treffen rasch auf ein Vorhaben, für das es keine Grundlage gab, als eine plötzliche Idee, vielleicht auch nur ein unbedacht vorgebrachtes Wort: Galerie! Chantal, die selbst zu diesem Zeitpunkt kein Land besass, war begeistert von Margaux Angebot, ihr eine Galerie hoch oben in den Lüften anzubieten. Die Miete dafür sollte ihr für ein paar Wochen erlassen werden. Sie schmiedeten Pläne. Eine offene Skybox wurde es, auf zwei Stockwerken, die die Kunstwerke der so begeisterten Chantal aufnehmen würde. Der luftige Standort hätte wunderbar zu der Leichtigkeit der Gemälde gepasst, von denen Chantal eines hergezeigt hatte. Das war wirklich ein schönes Tableau und es verführte Margaux zu der ihr eigenen Begeisterung: in Vorlage zu treten, wo das doch der Andere hätte tun sollen. So war das Build schliesslich fertig, aber die Kunstwerke blieben aus. Schliesslich blieb auch Chantal Munro aus, liess sich nicht mehr blicken und reagierte auf die sorgenvollen Nachrichten Margaux nicht mehr. So stellte das Build, das Kari vom Pod aus langsam an sich vorüberziehen sah, ebenfalls einer dieser Lost Places dar, welche unbeschadet aber traurig leer die letzten 15 Jahre überdauert hatten. Lost Places einer Demiurgin, die immer weiter und weiter zog war auf der Suche nach dem nächsten Anfang und dem nächsten Abenteuer. Wieviel Lebenszeit steckte da drin, wieviel Ideenreichtum, wieviel Arbeitsmühe!

[08:33] Ballon: Wir sind nun angekommen. Du kannst dich jetzt erheben, um sanft auf der Plattform zu landen.

Das tat Kari auch, verfehlte prompt die Plattform und landete unschön an den Hängen der Hügelkette im Nordwesten der Insel. Erst beim dritten Mal gelang ihr die Landung auf der Galerie. Lange werkelte sie herum, denn die einzige Aufstiegsmöglichkeit stellte der Pod dar: Claudia hatte das Fliegen auf der Insel unterbunden. Wenn das den anderen Gästen auch so ging, erst eine Vielzahl von versuchen zu benötigen, um auf der Galerie landen zu können, dann musste man sich über deren Enttäuschung nicht wundern. Denn zu sehen gab es auf der Skybox kein einziges Gemälde. Das Build war im Grunde sehr einfach konstruiert, ein architektonisches Durchschnittsprodukt aus übereinander gestapelten Quadern, in deren Mitte symmetrisch angelegte Stiegen ins Untergeschoss führten.. Viel Platz also, um an den halbhohen Wänden Kunstobjekte anzubringen und viel Licht, um das Beste aus ihnen zu machen. Man hätte die Galerie nur füllen müssen!

Kari wurde beim Besichtigen des Ortes bewusst, dass sie schon damals für ein grosses Projekt geprobt hatte, dass sie nach ihrem Weggang aus Brocéliande beschäftig hatte: ihre grosse Gemäldegalerie, den Nachbau des neurenovierten Zwanzigerhauses in Wien.

[08:33] Ballon: Bald wird an dieser Stelle hoch über der Gallerie eine Station für Fallschirmspringen eröffnet. (…) Nun bewegen wir uns wieder langsam hinunter zur Insel.

Wieder so ein Projekt von Margaux in dem Bemühen, die Attraktivität der Insel auch abseits des Pony – Fetisch zu erhöhen. Margaux hatte sich auch als Herrin über Brocéliande die Gewohnheit beibehalten, Second Life auf der Suche nach Neuem und Aufregendem abzuklappern. Da war ihr das aufregende Abenteuer des Springens aus grosser Höhe (Skydiving) aufgefallen, das auf einigen Grundstücken von Second Life betrieben werden konnte. Ausgerüstet mit einem HUD, einer Vorrichtung, die man sich an eine Ecke des Viewer „kleben“ konnte und die einem dann allerlei Messzahlen seines Sprunges anzeigte, liess man sich per Teleporter auf eine Plattform in luftige Höhen bringen und sprang dann, entsprechend mit Anzug und Fallschirm ausgerüstet, in die Tiefe. War schon das Fliegen selbst eine Attraktion, die man gerne und oft im Alltag übte, so versetzte einen der Sprung aus grösser Höhe einen zusätzlichen Kick. Man sprang buchstäblich ins Nichts, versuchte zu lenken, sich zu überschlagen, oder in horizontale Richtung zu schweben, vorbei an Sandboxen und Luftfahrzeugen, die es damals in grosser Menge im Luftraum des Grids gab. Und schliesslich tauchte unter einem das kleine Quadrat von 256 mal 256 Metern auf, oder eben eine grössere Fläche aus grünem Material, wenn es sich dabei um eine zusammenhängende Landmasse handelte. Was für ein Spass für die noch Flug ungewohnten Avatars.

Genau so etwas wollte Margaux auch auf ihrer Insel haben, eine Attraktion auf der Höhe der Zeit. Was Yhis mit ihrem Zirkus und Claudia mit ihrem Nachtklub versuchten, das hatte auch Margaux mit ihrer Sprungplattform vor: allerdings ohne sie in die virtuelle Realität umzusetzen. Kari lächelte: schön, dass sie daran erinnert worden war. Ob es diese Aktivität heute auf Second Life überhaupt noch gab?

[08:35] Ballon flüstert: Der zentrale Landepunkt mit dem Hannah Shenley Brunnen und einer Teleport – Station. Wieder ein Blick auf den See von Brocéliande und die zweithöchste Erhebung, den Svendsen Hügel, benannt nach unserem Partner Claudia.

Wieder eine Hannah, dachte Kari, und womöglich dieselbe von Vorhin, jene, die angeblich zu den Mitbegründerinnen von Brocéliande gehört hatte. Ihr war nun sogar ein Brunnen gewidmet worden. Daran konnte sich Kari überhaupt nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war der Brunnen erst nach ihrem Weggang so benannt worden. Kari stöberte, neugierig geworden, in den entsprechenden Seiten des SL Wikis. 2006 hatte es eine Hanna Shelley auf Second Life gegeben, wie Kari einem alten Forum entnahm. In den Postings ging es allerdings um die schlechte Qualität der Audio Feeds auf Second Life. Das war jedoch alles, was sie über Hannah Shenley hatte herausfinden können.

[08:36] Ballon: Liebe Gäste! Wir beenden nun unsere Tour. Das Team von Broceliande hofft, dass sie diese Reise genossen haben Danke für deinen Besuch. Du wirst nun sanft aus dem Ballon entlassen. Bitte nutze unsere Teleporter Stationen, um unsere Insel genauer zu erkunden.

Die Reise über das Inselreich ihrer Vergangenheit war nun vorüber. Natürlich hätte Kari auch weiterhin in den Wunden ihrer Vergangenheit hatte graben können. Und noch so viel hätte es zu entdecken gegeben, etwa die vielen Builds, die offenbar nach ihrem Weggang gebaut wurden. Aber was hätte sie damit gewonnen, was für die Zukunft lernen sollen. Die Menschen ändern sich wohl nie und nur die Avatars tun so, als könnten sie in neuer Gestalt auch völlig anderen Charakterzügen zum Leben verhelfen. Doch dem Spieler entkommen die Margauxs, Ojals und Karis nie.